Flurbereinigungsgericht München, Urteil vom 22.10.2014 - 13 A 13.1853 = RdL 2015, 133-134 (Leitsatz und Gründe)= KommunalPraxis BY 2015, 106 (Leitsatz) (Lieferung 2016)

Aktenzeichen 13 A 13.1853 Entscheidung Urteil Datum 22.10.2014
Gericht Flurbereinigungsgericht München Veröffentlichungen RdL 2015, 133-134 (Leitsatz und Gründe) = KommunalPraxis BY 2015, 106 (Leitsatz)  Lieferung 2016

Leitsätze[Quelltext bearbeiten]

1. Wenn Eheleute in einem Flurbereinigungsverfahren gemeinsam auftreten, ist unter Umständen davon auszugehen, dass ein Ehegatte auch ohne ausdrückliche Erklärung als Vertreter für den anderen gehandelt hat.
2. Wegen der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und des Grundsatzes von Treu und Glauben hat die Überschreitung der Frist zur Einlegung der Untätigkeitsklage nicht die Unzulässigkeit der Klage zur Folge, wenn die Behörde den Eindruck erweckt, der Teilnehmer dürfe mit dem Erlass des Widerspruchsbescheids noch rechnen. Für ihn besteht dann keine Veranlassung, Untätigkeitsklage zu erheben.
3. Eine Generalisierung des Gefälles bei unterschiedlichen Hangneigungen innerhalb eines Flurstücks ist nur zulässig, wenn die Strecken mit abweichender Hangneigung von unwesentlicher Länge sind.

Aus den Gründen

12    Der Widerspruch als Prozessvoraussetzung wurde wirksam erhoben (§ 141 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FlurbG).


13    Bei verständiger Würdigung der Gesamtumstände ist anzunehmen, dass der Widerspruch des Ehemanns auch für die Klägerin eingelegt werden sollte.


14    Bei der Auslegung von Anträgen und von bei einer Behörde einzulegenden Rechtsbehelfen sind ebenso wie bei der Auslegung von Prozesshandlungen die für die Auslegung von empfangsdürftigen Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts geltenden Rechtsgrundsätze (§§ 133, 157 BGB) anzuwenden. Danach kommt es nicht auf den inneren Willen der erklärenden Partei, sondern darauf an, wie die Erklärung aus der Sicht des Empfängers bei objektiver Betrachtungsweise zu verstehen ist. Dabei tritt der Wortlaut des Erklärenden hinter Sinn und Zweck der Erklärung zurück. Maßgebend ist der geäußerte Wille des Erklärenden, wie er aus der Erklärung und sonstigen Umständen für den Erklärungsempfänger erkennbar wird. Maßgeblich für den Inhalt des Antrages oder Rechtsbehelfs ist daher, wie die Behörde ihn unter Berücksichtigung aller ihr erkennbaren Umstände nach Treu und Glauben zu verstehen hat. Dabei muss sich die Auslegung auf den Schriftsatz in seiner Gesamtheit und das mit ihm erkennbar verfolgte Rechtsschutzziel beziehen. Bei der Ermittlung des wirklichen Willens ist nach anerkannter Auslegungsregel zugunsten des Bürgers davon auszugehen, dass er denjenigen Rechtsbehelf einlegen will, der nach Lage der Sache seinen Belangen entspricht und eingelegt werden muss, um den erkennbar angestrebten Erfolg zu erreichen (BVerwG, U.v. 12.12.2001 - 8 C 17.01 - BVerwGE 115,302/307). Wenn Eheleute in einem Verwaltungsverfahren gemeinsam auftreten, ist unter Umständen davon auszugehen, dass ein Ehegatte auch ohne ausdrückliche Erklärung als Vertreter für den anderen gehandelt hat (BVerwG, U.v. 18.4.1996 - 4 C 22.94 - BVerwGE 101, 58/63 = NVwZ 1996, 892/893). Dies ist hier der Fall, weil die Klägerin und ihr Ehemann die Verhandlungen mit dem Vorstandsvorsitzenden im Juli 2001 und Februar 2002, die vor der Feststellung der Wertermittlungsergebnisse (März 2002) stattfanden, gemeinsam bestritten und deshalb anzunehmen war, dass der Ehemann das Wertermittlungsergebnis für das im Jahr 2001 an die Klägerin aufgelassene Einlageflurstück 1265 in deren Vertretung statt im eigenen Namen angreifen wollte. Hiervon ging im Übrigen auch das ALE U. aus, das in dem an die Klägerin gerichteten Schreiben vom 20. Mai 2008 ausdrücklich auf "Ihren" Widerspruch vom "16.4.2002" Bezug nahm.


15    Die Klage ist nicht deshalb unzulässig, weil sie erst sechs Jahre nach der Einlegung des Widerspruchs erhoben wurde und kein Widerspruchsbescheid ergangen ist. Nach § 142 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 FlurbG ist eine Klage ohne Vorverfahren zulässig, wenn über einen Widerspruch innerhalb einer Frist von sechs Monaten sachlich nicht entschieden worden ist. Die Erhebung der Klage ist in diesen Fällen nur bis zum Ablauf von weiteren drei Monaten seit Ablauf dieser Frist zulässig (§ 142 Abs. 2 Satz 2 FlurbG). Der Umstand, dass die Rechtsbehelfsbelehrung keinen Hinweis auf diese Fristen enthält, steht dem Fristablauf nicht entgegen, weil die Vorschrift des § 58 VwGO die Klagefristen des § 142 Abs. 2 FlurbG nicht betrifft (BVerwG, U.v. 16.8.1995 - 11 C 2.95 - Buchholz 424.01 § 142 FlurbG Nr. 4 = RdL 1995, 332 = RzF - 8 - zu § 142 Abs. 2 FlurbG; BayVGH, U.v. 26.7.2001 - 13 A 98.3092 - RdL 2001, 326 = BayVBl 2002, 119). Ausgehend von dem Tag der Erhebung des Widerspruchs (17.4.2002) wäre das Fristende für die Untätigkeitsklage der 17. Januar 2003 gewesen (§ 138 Abs. 1 Satz 2 FlurbG, § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 2 ZPO, § 188 Abs.2 BGB). Wegen der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und des Grundsatzes von Treu und Glauben hat die Fristüberschreitung aber nicht die Unzulässigkeit der Klage zur Folge, wenn die Behörde den Eindruck erweckt, der Teilnehmer dürfe mit dem Erlass des Widerspruchsbescheids noch rechnen. Für ihn besteht dann keine Veranlassung, Untätigkeitsklage zu erheben (vgl. BVerwG, U.v. 16.8.1995 - 11 C 2.95 - RdL 1995, 332 = RzF - 8 - zu § 142 Abs. 2 FlurbG; BayVGH, U.v. 26.7.2001 -13 A 98.3092 - RdL 2001, 326 = BayVBl 2002, 119; U.v. 20.4.2004 -13 A 02.718 - RdL 2004, 322 = RzF - 10 - zu § 142 Abs. 2 FlurbG; Mayr in Wingerter/Mayr, a.a.O., § 142 Rn. 16). Eine solche Fallkonstellation ist hier gegeben. Die Beklagte bestätigte den Eingang des Widerspruchs, bearbeitete ihn anschließend und half ihm teilweise ab. Später gab der Spruchausschuss ein Wertgutachten in Auftrag und führte mit der Klägerin einen intensiven Schriftverkehr. Angesichts dessen durfte sie annehmen, dass das Widerspruchsverfahren seinen Fortgang nehme.


16    Die Klage ist auch begründet (§ 138 Abs. 1 Satz 2, § 146 Nr. 2 FlurbG, § 113 VwGO).


17    Die Feststellung des Wertermittlungsergebnisses für das genannte Einlageflurstück ist rechtswidrig, weil der Hangabschlag (-2 H) unrichtigerweise auf das Flurstück im Ganzen angesetzt wurde.


18    Der Wert der alten Grundstücke ist nach §§ 27 ff. FlurbG zu ermitteln. Landwirtschaftlich genutzte Grundstücke sind gemäß § 28 Abs. 1 FlurbG in der Regel nach dem Bodennutzungswert zu bewerten (Mayr in Wingerter/Mayr, a.a.O., § 28 Rn. 1). Hierbei sind alle für den Wert wesentlichen Faktoren zu berücksichtigen. Für den Nutzungswert im Sinn dieser Vorschrift ist neben den im Boden selbst liegenden Ertragsbedingungen auch die örtliche Lage für den Ertrag von Bedeutung (ders. a.a.O. § 28 Rn. 11, 12). Ein zu berücksichtigender ungünstiger Faktor ist die Hängigkeit des Geländes, weil z.B. Schlepperkosten und Erosionsgefahr bei stärkerer Bodenneigung zunehmen (BVerwG, U.v. 23.6.1959 - I C 78.58 - Buchholz 424.01 § 44 FlurbG Nr. 2; B.v. 8.5.1987 - 5 B 147.85 - = RzF - 38 - zu § 28 Abs. 1 FlurbG).


19    Der durch die Mitwirkung eines technischen Fachbeisitzers auch in vermessungstechnischer Hinsicht sachverständig besetzte Senat (vgl. BVerwG, U.v. 9.10.1973 - V CB 71.72 - BVerwGE 44, 96; BayVGH, U.v. 16.7.2013 - 13 A 11.1856 - BayVBl 2014, 247) hat im Rahmen der Beweisaufnahme Hangmessungen vorgenommen. Die Beweisaufnahme hat ergeben, dass der quer zur Längsrichtung (West/Ost) des genannten Einlageflurstücks verlaufende Hanganstieg (Süd/Nord) nicht einheitlich, sondern unterschiedlich hoch ist (am westlichen Ende auf 65 m max. 4 % - in der Mitte 8 % - am östlichen Ende auf 35 m 6 %). Demgemäß verbleibt es hinsichtlich des mittleren Bereichs des Flurstücks bei dem von der Beklagten ermittelten Hangabschlag von -2 H, wohingegen im westlichen Bereich kein Abschlag und im östlichen Bereich nur ein solcher von -1 H anzubringen ist. Das hierbei angewandte Messverfahren war dasselbe wie bei der von der Beklagten vorgenommenen Wertermittlung, so dass Vergleichbarkeit sowohl im Einzelfall als auch für das Flurbereinigungsgebiet im Ganzen besteht. Das in der Flurbereinigungsverwaltung seit langem eingesetzte Hangmessgerät (sog. optischer Handgefällmesser) hat eine skalierte Ablesegenauigkeit von 0,5 %, wodurch eine ausreichende Messgenauigkeit gegeben ist. Dieses Gerät wird auch vom Senat verwendet. Das vom Senat gewonnene Beweisergebnis beruht somit auf der Kenntnis der örtlichen Verhältnisse und einer fachkundigen Messung gemäß einer bewährten und allgemein anerkannten Messmethode (vgl. BVerwG, B.v. 20.10.2011 - 9 B 15.11 - juris). Der Hinweis der Beklagten auf die in der Flurbereinigung allgemein praktizierte Generalisierung des Gefälles bei unterschiedlichen Hangneigungen innerhalb eines Flurstücks vermag keine andere Einschätzung zu rechtfertigen. Zwar ist es unüblich und untunlich, kleinere Abweichungen in Teilbereichen in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen, jedoch sind die Strecken mit niedrigerer Hangneigung im vorliegenden Fall nicht von unwesentlicher Länge.