Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 70. Senat, Urteil vom 10.04.2014 - OVG 70 A 17.13 = juris (Lieferung 2016)

Aktenzeichen OVG 70 A 17.13 Entscheidung Urteil Datum 10.04.2014
Gericht Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 70. Senat Veröffentlichungen = juris  Lieferung 2016

Leitsätze[Quelltext bearbeiten]

1. Das Flurbereinigungsgericht entscheidet Rechtsstreitigkeiten über die Vertreterbestellung nach Artikel 233 § 2 Abs. 3 Satz 1 EGBGB gemäß § 60 LwAnpG i. V. m. § 140 Satz 1 FlurbG.
2. Die Anforderungen an die Nichtfeststellbarkeit eines Eigentümers dürfen nicht überspannt werden. Da die Vorschrift des Artikel 233 § 2 Abs. 3 EGBGB bezweckt, zeitaufwändige Recherchen der Behörde zu vermeiden, hat sich der Umfang der gemäß § 24 VwVfG gebotenen Ermittlungstätigkeit auf nahe liegende Möglichkeiten zu beschränken, z. B. Einsichtnahme in das Grundbuch, Nachfrage bei den Nachlassgerichten bzw. Anfrage beim Einwohnermeldeamt.
3. Die Durchführung eines Verwaltungsverfahrens, bei dem der Grundstückseigentümer Beteiligter ist, rechtfertigt die Annahme eines entsprechenden Vertretungsbedürfnisses. Auch das Interesse, eine zustellfähige Adresse des Eigentümers zu erlangen, kann das Bedürfnis zur Vertreterbestellung rechtfertigen.
4. Der Rechtsnachfolger des im Grundbuch eingetragenen verstorbenen Eigentümers ist nur dann mit der notwendigen Verlässlichkeit festzustellen, wenn sich die Rechtsnachfolge anhand öffentlicher Urkunden lückenlos nachvollziehen lässt. Handelt es sich um eine Erbengemeinschaft, so ist es erforderlich, dass alle Mitglieder der Erbengemeinschaft bekannt sind.
5. Art. 233 § 2 Abs. 3 Satz 1 EGBGB eröffnet kein behördliches Entschließungsermessen, sondern begründet einen unbedingten Anspruch des Antragstellers auf Vertreterbestellung durch den Landkreis.

Aus den Gründen

Der Senat ist für die Entscheidung zuständig. Gemäß § 60 LwAnpG i.V.m. § 140 Satz 1 FlurbG entscheidet das Flurbereinigungsgericht über die Anfechtung von Verwaltungsakten, die im Vollzug dieses Gesetzes ergehen, über die Verurteilung zum Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes und über alle Streitigkeiten, die durch ein Flurbereinigungsverfahren hervorgerufen werden und vor Eintritt der Unanfechtbarkeit der Schlussfeststellung anhängig geworden sind, soweit hierfür der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist.


Die hier streitige Vertreterbestellung nach Art. 233 § 2 Abs. 3 Satz 1 EGBGB wird von den Landkreisen und kreisfreien Städten als einseitig regelnde Hoheitsmaßnahme und damit als Verwaltungsakt vorgenommen (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 2002 - V ZR 243/01 -, juris Rz. 14), so dass eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit gegeben ist. Die Streitigkeit ist auch "durch ein Flurbereinigungsverfahren hervorgerufen" worden. Denn der Kläger begehrt mit dem streitigen Anspruch die Bestellung eines Vertreters für die ihm unbekannten Beteiligten eines konkreten Bodenordnungsverfahrens.


Eine abdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich. § 119 FlurbG, der in Absatz 2 die Vertreterbestellung durch das Betreuungsgericht regelt, wird durch Art. 233 § 2 Abs. 3 Satz 6 EGBGB suspendiert. Soweit Art. 233 § 2 Abs. 3 Satz 4 EGBGB unter anderem § 16 Abs. 4 VwVfG für entsprechend anwendbar erklärt, der seinerseits auf die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über die Betreuung und ergänzend diejenigen der Pflegschaft verweist, folgt auch daraus keine abdrängende Sonderzuweisung. Zwar ist die Vertreterbestellung nach § 16 VwVfG durch das Betreuungsgericht vorzunehmen. Dies regelt die Vorschrift aber bereits in ihrem Absatz 1, der in Art. 233 § 2 Abs. 3 Satz 4 EGBGB gerade nicht in Bezug genommen wird.


...


Ist der Eigentümer eines Grundstücks oder sein Aufenthalt nicht festzustellen und besteht ein Bedürfnis, die Vertretung des Eigentümers sicherzustellen, so bestellt gemäß Art. 233 § 2 Abs. 3 Satz 1 EGBGB der Landkreis oder die kreisfreie Stadt, in dessen oder deren Gebiet sich das Grundstück befindet, auf Antrag der Gemeinde oder eines anderen, der ein berechtigtes Interesse daran hat, einen gesetzlichen Vertreter. Die Vorschrift eröffnet kein behördliches Entschließungsermessen, sondern begründet einen unbedingten Anspruch. ...


Die Anforderungen an die Nichtfeststellbarkeit eines Eigentümers dürfen nicht überspannt werden. Mit Art. 233 § 2 Abs. 3 Satz 1 EGBGB wollte der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen, dass die Eigentümer von Grundstücken in den neuen Bundesländern vielfach nicht aus dem Grundbuch zu ermitteln waren und damit Verfügungen über die Grundstücke ebenso erschwert waren wie Verwaltungs- und Instandsetzungsmaßnahmen an den aufstehenden Gebäuden. Angesichts der Häufigkeit dieses Phänomens sollte durch die Bestimmung der Landkreise und kreisfreien Städte als für die Vertreterbestellung zuständig das Verfahren vereinfacht und die Überlastung der Vormundschaftsgerichte in den neuen Bundesländern verhindert werden, die 1992 noch nicht oder noch nicht in hinreichender Zahl mit Rechtspflegern ausgestattet waren (vgl. BT-Drs. 12/5553, Seite 131; BGH, Urteil vom 25. Oktober 2002, a.a.O., bei Juris, Rz. 18). Das Ziel der Vorschrift, das Verfahren zu vereinfachen und die ordentlichen Gerichte von zahlreichen Pflegschaftsanträgen zu entlasten, spricht dafür, dass an die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals, dass der Eigentümer eines Grundstücks oder sein Aufenthalt "nicht festzustellen" ist, keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. Der Gesetzgeber wollte zeitraubende Nachforschungen gerade nicht zur Voraussetzung der Vertreterbestellung machen. Nach den Motiven des Gesetzes war die schnelle Verfügbarkeit von Grundstücken in den neuen Bundesländern beabsichtigt, so dass Nachforschungen nicht allzu lange dauern sollten, weil es anderenfalls auch bei der von dem Gesetzgeber so nicht gewollten Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichtes hätte verbleiben können (vgl. OLG Rostock, a.a.O.). Da die Vorschrift bezweckt, zeitaufwändige Recherchen der Behörde zu vermeiden, hat sich der Umfang der gemäß § 24 VwVfG gebotenen Ermittlungstätigkeit auf naheliegende Möglichkeiten zu beschränken, z.B. Einsichtnahme in das Grundbuch, Nachfrage bei den Nachlassgerichten bzw. Anfrage beim Einwohnermeldeamt (vgl. VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 21 April 2004 - 5 K 1060/98 -, bei Juris, Rz. 28 zur wortgleichen Vorschrift des § 11b Abs. 1 Satz 4 VermG, m.w.N.; VG Berlin, Urteil vom 15. Dezember 2005 - 29 A 108.00 - , bei Juris, Rz. 28).


...


Bei der Klärung der Frage, ob der Eigentümer eines Grundstücks nicht festzustellen ist, ist grundsätzlich von den Eintragungen im Grundbuch auszugehen. Dem entspricht im vorliegenden Kontext eines Bodenordnungsverfahrens auch die Vorschrift des § 57 LwAnpG, wonach die Flurneuordnungsbehörde die Beteiligten auf der Grundlage der Eintragungen im Grundbuch zu ermitteln hat. Entsprechend regelt § 12 Abs. 1 Satz 1 FlurbG für das Flurbereinigungsverfahren, dass für die Ermittlung der Beteiligten die Eintragungen im Grundbuch maßgebend sind. Ist das Grundbuch evident unrichtig, etwa weil die dort eingetragenen Grundstückseigentümer verstorben sind, so sind die aktuellen Grundstückseigentümer nur dann im Sinne von Art. 233 § 2 Abs. 3 Satz 1 EGBGB festzustellen, wenn sie als Rechtsnachfolger hinreichend sicher feststehen. Handelt es sich dabei um eine Erbengemeinschaft, so ist es erforderlich, dass alle Mitglieder der Erbengemeinschaft bekannt sind (vgl. Kimme, Vermögensrecht, § 11b VermG, Rz. 24).


Der Rechtsnachfolger des noch im Grundbuch eingetragenen verstorbenen Eigentümers ist nur dann mit der notwendigen Verlässlichkeit festzustellen, wenn sich die Rechtsnachfolge anhand öffentlicher Urkunden lückenlos nachvollziehen lässt (so auch der dem § 12 Absatz 1 Satz 2 FlurbG zugrunde liegende Rechtsgedanke). In dem hier vorliegenden Fall des Versterbens der im Grundbuch eingetragenen Grundstückseigentümer kommt der Nachweis der Gesamtrechtsnachfolge insbesondere aufgrund eines Erbscheins (§§ 2353 f. BGB) sowie eines öffentlichen Testaments (§ 2232 BGB) in Betracht (vgl. VG Frankfurt (Oder), a.a.O., Rz. 28 a.E.; Wingerter/Meyer, Flurbereinigungsgesetz, 9. Auflage, § 12, Rz. 3, § 119, Rz. 3).


Gemäß § 2353 BGB erteilt das Nachlassgericht dem Erben auf Antrag ein Zeugnis über sein Erbrecht und, wenn er nur zu einem Teil der Erbschaft berufen ist, über die Größe des Erbteils. Gemäß § 2359 BGB ist der Erbschein nur zu erteilen, wenn das Nachlassgericht die zur Begründung des Antrags erforderlichen Tatsachen für festgestellt erachtet. Das hierfür gesetzlich vorgesehene Verfahren bürgt in hohem Maße für die Richtigkeit dieser Feststellung. Wer die Erteilung eines Erbscheins als gesetzlicher Erbe beantragt, hat die in § 2354 BGB geforderten Angaben zu machen und die Richtigkeit dieser Angaben nach Maßgabe von § 2356 BGB nachzuweisen. Dazu gehört gemäß § 2356 Abs. 2 Satz 1 BGB grundsätzlich auch eine eidesstattliche Versicherung, dass dem Antragsteller nichts bekannt ist, was der Richtigkeit seiner Angaben entgegensteht, wie etwa das Fehlen weiterer erbberechtigter Personen (§ 2354 Abs. 1 Nr. 3 BGB), einer (weiteren) Verfügung von Todes wegen (§§ 2354 Abs. 1 Nr. 4, 2355 BGB) sowie der Nichtanhängigkeit eines Rechtsstreits über sein Erbrecht (§ 2354 Abs. 1 Nr. 5 BGB). Gemäß § 2358 Abs. 1 BGB hat das Nachlassgericht unter Benutzung der von dem Antragsteller angegebenen Beweismittel von Amts wegen die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen zu veranstalten und die geeignet erscheinenden Beweise aufzunehmen und gegebenenfalls nach Maßgabe von § 2360 BGB Betroffene anzuhören. Aus diesen Vorschriften lässt sich entnehmen, dass in dem gesetzlich vorgesehenen Verfahren eine verlässliche Feststellung des Erben durch das Nachlassgericht erfolgt und durch Erteilung des Erbscheins bekundet wird. Eigenständige tatsächliche Ermittlungen und rechtliche Subsumtionen durch die in Art. 233 § 2 Abs. 3 Satz 1 EGBGB genannten Behörden oder auch durch die Flurbereinigungsbehörde führen grundsätzlich nicht zu vergleichbar verlässlichen Ergebnissen und sind daher prinzipiell nicht geeignet, Erben ohne Erbscheinsverfahren festzustellen.


...


Die weitere tatbestandliche Voraussetzung für die Bestellung eines gesetzlichen Vertreters nach Art. 233 § 2 Abs. 3 EGBGB, das Vorliegen eines Bedürfnisses, die Vertretung des Eigentümers sicherzustellen, ist hier ebenfalls gegeben.


Überhöhte Anforderungen sind auch insoweit nicht zu stellen, um die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Regelung nicht zu beeinträchtigen. Ein Bedürfnis liegt jedenfalls dann vor, wenn rechtliche Interessen des Eigentümers oder eines Dritten betroffen sind. So rechtfertigt beispielsweise die Durchführung eines Verwaltungsverfahrens, bei dem der Grundstückseigentümer Beteiligter ist, die Annahme eines entsprechenden Vertretungsbedürfnisses. Auch das Interesse etwa einer Behörde, einer Gemeinde oder eines Dritten, eine zustellfähige Adresse des Eigentümers zu erlangen, kann das Bedürfnis rechtfertigen (vgl. Kimme, a.a.O., § 11b VermG, Rz. 31, 32).


Vorliegend ist ein solches Bedürfnis zu bejahen. Die Eigentümer der zum Bodenordnungsverfahren hinzugezogenen Grundstücke sind als Teilnehmer Beteiligte am Bodenordnungsverfahren (vgl. § 63 Abs. 2 LwAnpG, § 10 Nr. 1 FlurbG) mit eigenen Rechten (vgl. etwa § 22 FlurbG). Insbesondere sind sie gemäß § 57 FlurbG vor der Aufstellung des Flurbereinigungs- bzw. des Bodenordnungsplanes über ihre Wünsche für die Abfindung zu hören. Das Unterlassen dieser Anhörung führt zur Rechtswidrigkeit und damit zur Anfechtbarkeit des Planes (vgl. Wingerter, a.a.O., § 57 FlurbG, Rz. 1).

Anmerkung


nachfolgend BVerwG, Urteil vom 05.05.2015 - 9 C 12/14 - = RzF - 8 - zu § 57 LwAnpG