Bundesgerichtshof, Urteil vom 11.11.1976 - III ZR 114/75 = BGHZ 67, 320= NJW 1977 S. 388= MDR 1977 S. 293
Aktenzeichen | III ZR 114/75 | Entscheidung | Urteil | Datum | 11.11.1976 |
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Gericht | Bundesgerichtshof | Veröffentlichungen | = BGHZ 67, 320 = NJW 1977 S. 388 = MDR 1977 S. 293 | Lieferung | N/A |
Leitsätze[Quelltext bearbeiten]
1. | Das Gebot der gerechten Abwägung erfordert bei der Abwägung der privaten Belange untereinander eine möglichst gleichmäßige Berücksichtigung. Kann dies nur in einer Umlegung (§§ 45 ff. BBauG) verwirklicht werden, so muß die Gemeinde ihre Bauleitplanung auf die Ergebnisse einer derartigen Bodenordnung einstellen ("Wendehammer"). |
Aus den Gründen
Die Stadt B. betreibt die Enteignung der beiden Teilflächen, um sie "entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans" zu nutzen (§ 85 Absatz 1 Nummer 1 BBauG). Die Enteignung nach § 85 Absatz 1 Nummer 1 BBauG setzt voraus, daß die Festsetzungen des Bebauungsplans, denen die beabsichtigte Nutzung des Grundstückes entsprechen soll, wirksam sind. Die von den Eigentümern gegen die Wirksamkeit des Bebauungsplans erhobenen Einwendungen hinsichtlich der Anlage des Wendehammers hat das Berufungsgericht für unbegründet erachtet.
Das greift die Revision mit Erfolg an.
Für unbegründet hat das Berufungsgericht den Vorwurf der beteiligten Eigentümer erachtet, die Stadt G. habe ihr Planungsermessen mangelhaft ausgeübt, die Leitsätze der Bauplanung (§ 1 Absatz 4 Satz 1 und 3 sowie Absatz 5 BBauG) verletzt und insbesondere gegen das Gebot der gerechten Abwägung der durch die Planung berührten öffentlichen und privaten Belange (§ 1 Absatz 4 Satz 2 BBauG) verstoßen. Die für den Wendehammer gefundene Lösung - so hat es ausgeführt - liege angesichts der Größe der Grundstücke der beteiligten Eigentümer und ihrer Lage am Ende der Straße nicht so außerhalb aller vernünftigen Abwägungen, daß die Bedeutung der betroffenen privaten und öffentlichen Belange als verkannt angesehen werden müßte. Von einer Unwirksamkeit des Bebauungsplans wegen Verstoßes gegen das Gebot gerechter Abwägung könne daher nicht gesprochen werden.
Die hiergegen von der Revision erhobenen Angriffe sind im Ergebnis begründet.
a) Nach der nunmehr übereinstimmenden Rechtsprechung des Senats (siehe Urteil vom 28.5.1976 - III ZR 137/74 = BGHZ 66, 322 = NJW 1976, 1745) und des Bundesverwaltungsgerichts (siehe BVerwGE 34, 301; 45, 309) stellen die in § 1 Absatz 4 Satz 1 und 3 sowie Absatz 5 BBauG enthaltenen Leitsätze der Bauleitplanung unbestimmte Rechtsbegriffe dar, die sowohl in ihrer Auslegung als auch in ihrer Anwendung der Rechtskontrolle durch die Gerichte unterliegen (vgl. BVerwGE 34, 301, 308; Hoppe BauR 1970, 15 ff.). Im Unterschied dazu ist die Frage, ob die jeweilige Planung das Ergebnis einer gerechten Interessenabwägung (§ 1 Absatz 4 Satz 2 BBauG) ist, der richterlichen Kontrolle nur beschränkt zugänglich. Das Gebot gerechter Abwägung ist jedoch verletzt - und insoweit ein Planungsmangel auch von den Baulandgerichten zu beachten -, wenn in die Abwägung an Belangen nicht eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muß. Es ist weiter verletzt, wenn die Bedeutung der betroffenen privaten Belange verkannt oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten Belangen in einer Weise vorgenommen wird, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht. Innerhalb des so gezogenen Rahmens wird das Abwägungsgebot nicht verletzt, wenn sich die zur Planung berufene Gemeinde im Widerstreit zwischen verschiedenen Belangen für die Bevorzugung des einen und damit notwendig für die Zurückstellung eines anderen entscheidet. Den so umrissenen Anforderungen an die Planung unterliegt auch der Abwägungsvorgang als solcher. Der nach § 1 Absatz 4 Satz 2 BBauG vorgesehene abschließende Abwägungsvorgang ist vom Gesetz als ein umfassender und ungebundener gedacht. Jede sachliche Verkürzung des abschließenden Abwägungsvorgangs widerspricht grundsätzlich der Regelung des § 1 Absatz 4 Satz 2 BBauG (vgl. BVerwGE 45, 309). Entspricht der Abwägungsvorgang den geschilderten Erfordernissen, so ist gleichwohl eine Verletzung des Gebots gerechter Abwägung anzunehmen, wenn die Gewichtung verschiedener Belange in ihrem Verhältnis zueinander in einer Weise erfolgte, durch die die objektive Gewichtigkeit eines dieser Belange völlig verfehlt wurde (BVerwG a.a.O. S. 315).
b) Die verbindliche Bauleitplanung ist eine materiell-gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums (Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 GG; Senatsurteil vom 30.1.1975 - III ZR 18/72 = DVBl 1976, 173 = VersR 1975, 737 = WM 1975, 639; Bartlsperger, DVBl 1967, 360, 367; Schmidt-Aßmann a.a.O. S. 161 Fn. 202 mit weiteren Nachweisen). Bei der eigenverantwortlichen Aufstellung der Bauleitpläne (vgl. § 2 Absatz 1 BBauG) ist die Gemeinde sowohl an die Rechtsdirektiven (u.a.) des § 1 Absatz 4 BBauG als auch an höherrangiges Recht, vor allem das Grundgesetz gebunden. Der Rechtsweg des Artikel 19 Absatz 4 GG gewährleistet, daß diese Schranken der Satzungsautonomie eingehalten werden (BVerfGE 33, 125, 160/161). Die gerichtliche Kontrolldichte hat diesen rechtlichen Bindungen des Planungsträgers zu entsprechen. Sie wird auch dadurch mitbestimmt, daß ein effektiver, den Bestand des Eigentums sichernder Rechtsschutz ein wesentliches Element des durch Artikel 14 GG garantierten Grundrechts "Eigentum" selbst ist (vgl. BVerfGE 37, 132, 148; 35, 348, 361; 24, 367, 401; Senatsurteil BGHZ 63, 240, 255).
Angesichts dessen, daß die planerischen Festsetzungen in der Realität weithin eigentumsverteilend wirken (vgl. Senatsurteil vom 30.1.1975 a.a.O.), ist eine wirksame gerichtliche Kontrolle erforderlich (BVerwGE 45, 309, 325; Bartlsperger a.a.O. S. 368; Badura, Das Planungsermessen und die rechtsstaatliche Funktion des Allgemeinen Verwaltungsrechts, in Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Bayer. VerfGH, S. 157 ff., 179; Blümel, DVBl 1975, 695, 700; einschränkend Schmidt-Aßmann a.a.O. S. 160 ff.; Ossenbühl, Gutachten zum 50. DJT (1974) B I 184 ff.; Meyer, DVBl 1968, 492, 494).
c) Die Revision macht geltend, bevor die Stadt B. G. sich zu der die beteiligten Eigentümer schwer belastenden Planung habe entschließen dürfen, hätte sie die gutachtlich begründeten Vorschläge der Eigentümer zur Verschiebung des Wendehammers auf ihre technische und wirtschaftliche Durchführbarkeit hin überprüfen müssen.
Ob diese Rüge begründet ist - das Berufungsgericht ist der Ansicht, zu einer solchen Prüfung sei die Stadt nicht verpflichtet gewesen und durch den Wendehammer werde die Bewohnbarkeit des Doppelhauses nicht in unzumutbarer Weise beeinträchtigt - kann auf sich beruhen. Schon aus einem anderen Grunde muß eine Verletzung des Gebots gerechter Abwägung bejaht werden.
d) Das Abwägungsgebot erfordert nicht nur ein Abwägen der öffentlichen mit den betroffenen privaten Belangen, sondern auch der privaten Belange untereinander. Die "gerechte" Abwägung dieser Belange muß von dem Bestreben getragen sein, im Rahmen des Planungsziels einen Interessenausgleich herzustellen (Badura a.a.O. S. 173 mit Fn. 75, S. 179; vgl. auch BVerwG DVBl 1969, 697, 699). Die berührten privaten Belange dürfen daher nicht ohne sachliche Rechtfertigung ungleich behandelt werden (vgl. VGH Baden-Württemberg DÖV 1963, 760, 763; Badura a.a.O. S. 181). Insoweit kommt in den durch § 1 Absatz 4 BBauG gesetzten Maßstäben auch der allgemeine Gleichheitssatz (Artikel 3 Absatz 1 GG) zur Geltung, der bei der Inhaltsbestimmung des Eigentums (Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 GG) neben dem grundlegenden Gehalt der Eigentumsgarantie des Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 GG und den übrigen Verfassungsnormen zu beachten ist (BVerfGE 21, 72, 82; 18, 121, 132; 14, 263, 278).
Daraus ergibt sich für den hier zu würdigenden Fall der planerischen Festsetzung von Verkehrsflächen für Erschließungszwecke, daß die beteiligten privaten Rechtsträger möglichst gleich belastet werden müssen (vgl. dazu auch Senatsurteil BGHZ 62, 305, 311). Schon auf der Stufe der Bauleitplanung ist darauf Bedacht zu nehmen, daß die Lastengleichheit durch die Art und Weise der Festsetzungen gewährleistet wird. Eine "Belastung" in diesem Sinne ist auch die Beschränkung der baulichen Nutzbarkeit. Eine Festsetzung dieser Art, die als Folge des für die Erschließungsanlage gewählten Standortes die bauliche Nutzbarkeit nur bestimmter Grundstücke empfindlich beschneidet, entspricht den Anforderungen einer "gerechten" Abwägung grundsätzlich nur, wenn für die Anordnung der Anlage gerade an dieser Stelle sachlich einleuchtende Gründe bestehen, wenn etwa die natürlichen Geländeverhältnisse die planerische Lösung mehr oder minder "vorzeichnen". Der vorgefundene Zuschnitt und die Größe der berührten Grundstücke zwingen (und berechtigen) indessen die Planung nicht zu einer Lösung nur in diesen Grenzen. Der Bebauungsplan soll auch die Grundlage dafür schaffen, daß die bestehenden natürlichen Hindernisse gegen eine zweckmäßige bauliche Ordnung "gestaltend" beseitigt werden. Diesem Ziel dient namentlich die Umlegung (§§ 45 ff. BBauG). Sie eignet sich dazu, Landabzüge nach einem für alle Beteiligten gleichen Maßstab auf einen größeren Kreis von Eigentümern zu "verteilen" (vgl. dazu Ernst/Zinkahn/Bielenberg a.a.O. § 52 Rdn. 7), wie dies der Sache nach beispielsweise in der sog. Unternehmensflurbereinigung (§ 87 ff. FlurbG; dazu Senatsurteil vom 29.3.1976 - III ZR 98/73 = NJW 1976, 1088 = DÖV 1976, 641) geschieht.
Können hiernach die natürlichen "Zufälligkeiten", die der Verlegung der die bauliche Nutzung störenden Erschließungsanlage entgegenstehen, durch bodenordnende Maßnahmen der beschriebenen Art ausgeräumt werden und kann dem Gebot der Lastengleichheit im Einzelfall nur durch eine solche Gestaltung entsprochen werden, so ist die Gemeinde gehalten, ihre Planung auf die Ergebnisse einer derartigen Bodenordnung einzustellen (zur Wechselwirkung zwischen Bauleitplanung und Umlegung vgl. Schütz/Frohberg BBauG 3. Auflage § 46 Anmerkung I 2).
e) Das ist von der Stadt B. G. erkennnbar nicht beachtet worden.
Durch den Ausbau der Stichstraße "A. D." und die Anlage des Wendehammers werden die Grundstücke der Anlieger verkehrsmäßig erschlossen und es wird ihre bauliche Nutzung möglich. Soweit die Anlieger das für den Ausbau der Straße notwendige Gelände an die Stadt abzutreten haben, werden sie entsprechend der Breite ihrer Grundstücke gleichermaßen belastet. Anders aber ist es bei der Anlage des Wendehammers. Die Lasten dieser zur vollständigen verkehrsmäßigen Erschließung der Anliegergrundstücke notwendigen Anlage treffen ganz überwiegend nur die beteiligten Eigentümer. Diese ungleiche Belastung läßt sich nicht allein mit dem Hinweis auf die Größe ihrer Grundstücke rechtfertigen. Denn von ihnen wird nicht nur eine größere Landabgabe verlangt als von den anderen Anliegern, sondern die Anlage des Wendehammers beeinträchtigt die bauliche Nutzbarkeit der den Eigentümern verbleibenden Grundflächen beträchtlich. So ist - anders als bei den Nachbargrundstücken - nur die Bebauung mit einem Doppelhaus zulässig und der Wendehammer reicht an die Rückfront des Hauses bis zu 0,65 m heran. Zudem ist an den Wendehammer eine Privatstraße angeschlossen. Die Anlieger dieser Straße erhalten die mit der Anlage des Wendehammers und dem Ausbau der Straße "A. D." verbundenen Vorteile (verkehrsmäßige Erschließung und Eröffnung der baulichen Nutzung ihrer Grundstücke), ohne auch nur durch die Abgabe von Land zum Ausbau dieser Verkehrsanlage beigetragen zu haben.
Bei dieser Sachlage hätte die Stadt für die Anlieger der Stichstraße "A. D." und der Privatstraße die Durchführung eines Umlegungsverfahrens zum Zwecke der Erschließung erwägen müssen. Nur im Rahmen eines solchen Verfahrens (§§ 45 ff. BBauG) hätte die Möglichkeit bestanden, die mit der Anlage des Wendehammers verbundenen besonderen Lasten dem Abwägungsgebot entsprechend möglichst gleichmäßig auf die Eigentümer zu verteilen, die durch die Anlage einen unmittelbaren Vorteil erlangen. Denn aus der von den Grundstücken des Umlegungsgebietes zu bildenden Umlegungsmasse hätten vorweg die benötigten Verkehrsflächen ausgeschieden werden müssen (§ 55 BBauG) und die dann verbleibende Verteilungsmasse hätte zur Abfindung der Eigentümer, und zwar entsprechend ihrer Beteiligung (§ 59 BBauG) zur Verfügung gestanden. Eine solche Lastenverteilung kann hier von einer Planung, die sich an die bestehenden Grundstücksgrenzen bindet, auch nicht entfernt erreicht werden.
Da die Stadt diese Überlegungen erkennbar nicht in die von ihr vorgenommene Abwägung eingestellt hat, verletzt der Bebauungsplan das Gebot der gerechten Abwägung. Dieser Mangel kann hier nicht mehr behoben werden. Mithin entbehrt der Bebauungsplan - jedenfalls soweit er die beteiligten Eigentümer betrifft - auch aus diesem Grunde der Wirksamkeit.
Demnach gibt der Bebauungsplan Nummer 16 der Stadt B. G. (jetzt Nummer 5016 der Stadt B.) eine geeignete Grundlage für den Enteignungsbeschluß vom 28.12.1971 nicht ab.