Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 12.11.1974 - 1 BVR 32.68 = AgrarR 1975 S. 40
Aktenzeichen | 1 BVR 32.68 | Entscheidung | Urteil | Datum | 12.11.1974 |
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Gericht | Bundesverfassungsgericht | Veröffentlichungen | = AgrarR 1975 S. 40 | Lieferung | N/A |
Leitsätze[Quelltext bearbeiten]
1. | Aus der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG folgt ein Rückerwerbsrecht des früheren Grundstückseigentümers, wenn der Zweck der Enteignung nicht verwirklicht wird. Für die Realisierung dieses Anspruchs bedarf es nicht unbedingt einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage. |
Aus den Gründen
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.
I. Der im Zusammenhang mit der hier behandelten verfassungsrechtlichen Frage verwendete und in der Praxis übliche Begriff der Rückenteignung verdeckt die maßgebliche Fragestellung. Es geht hier nicht um die "Enteignung" eines durch eine frühere Enteignung Begünstigten. Im Mittelpunkt des verfassungsrechtlichen Problems steht vielmehr die Frage, ob der betroffene Grundstückseigentümer ein Recht auf Rückübereignung des enteigneten Objektes hat, wenn das Unternehmen, zu dessen Zweck enteignet wurde, nicht durchgeführt worden ist oder sich nachträglich herausstellt, daß das Grundstück für das Unternehmen nicht benötigt wird.
Der Wortlaut des Grundgesetzes gibt auf diese Frage unmittelbar keine Antwort; sie folgt jedoch aus dem Inhalt und dem Wesen der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit der Enteignungsregelung des Art. 14 Abs. 3 GG.
1. Die Enteignung von Grundstücken, die klassische Enteignung, ist nicht allein durch den Eingriff in das Vermögen des Bürgers und die gegenständliche Überführung des entzogenen Objektes auf die öffentliche Hand charakterisiert. Bei einer funktionalen Betrachtung, die allein geeignet ist, das Wesen der Enteignung zu erschließen, zeigt sich, daß sie kein auf Vermögenserwerb durch den Staat ausgerichtetes Instrument ist. Der Zweck der Enteignung erschöpft sich nicht in dem Entzug des Eigentums oder in der Erlangung des Eigentums in der Hand des Staates oder der Gemeinde. Zweck und Legitimation der Enteignung sind darin zu sehen, daß das enteignete Grundstück für die öffentliche Aufgabe, die mit dem Unternehmen erfüllt werden soll (z. B. wie hier für eine Straße), zur Verfügung steht. Die Eigentumsentziehung und die Begründung des Eigentums für die öffentliche Hand sind nur Mittel zu diesem Zweck.
Nach Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG ist eine Enteignung nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig. Mit dieser Vorschrift knüpft die Verfassung an den seit der Entstehung der Enteignung als Verfassungsinstitut unangefochtenen Rechtssatz an, daß die Enteignung kein Instrument zur Vermehrung des Staatsvermögens ist und Enteignungen aus fiskalischen Gründen unzulässig sind, auch wenn hierdurch eine finanzielle Entlastung in anderen Bereichen eintritt. Das Opfer, das der Enteignete zu bringen hat, wird allein dadurch gerechtfertigt, daß sein Grundstück zur Erfüllung einer bestimmten öffentlichen Aufgabe erforderlich ist.
2. Aus der rechtlichen Natur der Enteignung als eines Instruments, das dem Gemeinwohl durch die Verwirklichung eines bestimmten, im öffentlichen Nutzen liegenden Zwecks dient, ergeben sich eine Reihe von Folgerungen.
Von der Funktion der Enteignung her muß der Eingriff in das Eigentum mit dem erklärten Ziel erfolgen, das Objekt für eine konkrete, dem Wohl der Allgemeinheit dienende Aufgabe bereitzustellen. Darüber hinaus muß eine Notwendigkeit für den Eigentumserwerb vorliegen. Nur wenn es zur Erfüllung der öffentlichen Aufgabe unumgänglich erforderlich ist, das Eigentum in die Hand des Staates zu bringen, ist auch die Eigentumszuweisung an die öffentliche Hand vom Gemeinwohl getragen. Darüber hinaus ist das Mittel der vollständigen Eigentumsentziehung nur bei einem auf Dauer ausgerichteten Unternehmen gerechtfertigt (BVerfGE 24, 367 (407)). Die verfassungsrechtliche Ermächtigung zum Eingriff in das Eigentum besteht nicht dafür, daß ein Unternehmen beabsichtigt, sondern daß es ausgeführt wird. Das ist die Grundlage und Voraussetzung für den verfassungsrechtlichen Enteignungsanspruch des Staates aus Art. 14 Abs. 3 GG. Solange die enteignete Sache ihrem Zweck nicht zugeführt ist, ist das Ziel der Enteignung nicht erreicht.
3. Die Enteignungsermächtigung aus Art. 14 Abs. 3 steht in einem komplementären Verhältnis zur Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Diese sichert den konkreten Bestand in der Hand des einzelnen Eigentümers. Der Bürger muß aber unter den Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 3 - und nur unter diesen Voraussetzungen - den Zugriff des Staates auf sein Eigentum dulden. Wird die öffentliche Aufgabe, der die Enteignung dienen soll, nicht ausgeführt oder das enteignete Grundstück hierzu nicht benötigt, so entfällt die aus Art. 14 Abs. 3 Satz 1 herzuleitende Legitimation für den Zugriff auf das Privateigentum und der Rechtsgrund für den Eigentumserwerb durch die öffentliche Hand. Damit entfaltet die Garantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG wieder ihre Schutzfunktion. In einem solchen Fall kann die durch die Enteignung erlangte Rechtsposition der öffentlichen Hand keinen Vorrang vor der verfassungsrechtlich geschützten Rechtsstellung des Bürgers haben. Mit dem Wegfall der die Enteignung legitimierenden verfassungsrechtlichen Voraussetzungen entbehrt auch das Eigentum in der öffentlichen Hand für die Zukunft der Rechtfertigung. Der Enteignete kann daher auf Grund der Garantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG die Herstellung des verfassungsmäßigen Zustandes, d. h. die Rückübereignung des Grundstücks, fordern. Durch die Zurückbehaltung würde die Behörde einen Vermögensvorteil erlangen, für den sie das Instrument der Enteignung nicht einsetzen könnte.
4. Rückerwerbsrechte der erörterten Art haben in einer Vielzahl von gesetzlichen Bestimmungen - wenn auch mit unterschiedlichen Modalitäten - ausdrücklich Anerkennung gefunden (wird weiter ausgeführt).
II. 1. Das angefochtene Urteil verneint einen Rückgewährsanspruch, weil die "Rückenteignung" eine "echte Enteignung" sei, für die keine gesetzliche Grundlage im Sinne des Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG bestehe. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden.
Der Begriff der Enteignung ist zunächst dadurch gekennzeichnet, daß die öffentliche Hand (Bund, Länder, Gemeinden) auf Vermögen zugreift, das ihr nicht gehört. Von einem solchen zwangsweisen Zugriff kann bei dem Rückerwerbsanspruch des von der Enteignung betroffenen Bürgers keine Rede sein. Der Enteignete macht lediglich geltend, daß die Voraussetzungen für die Enteignung nachträglich entfallen sind. Schon aus diesem Grunde ist die Frage, ob dem Bürger unter bestimmten Voraussetzungen ein Recht auf Rückgabe seiner früheren Sache zusteht, kein Enteignungsproblem.
2. Dem Rückerwerbsrecht kann auch nicht der "Rechtsgedanke" des § 79 Abs. 2 BVerfGG entgegengesetzt werden. Diese Vorschrift ist eine Spezialregelung, die auf den Fall zugeschnitten ist, daß eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung auf einer verfassungswidrigen Norm beruht. Sie soll ein Problem lösen, das auf der besonderen Gestaltung der verfassungsrechtlichen Normenprüfung und ihren Auswirkungen beruht. Der dieser Regelung zugrunde liegende Rechtsgedanke kann nicht auf die Rückübereignung übertragen werden.
3. Das Rückforderungsrecht kann auch nicht mit der Begründung verneint werden, der Enteignete habe eine Entschädigung erhalten und erleide deshalb keinen Nachteil. Die Vorstellung, die Eigentumsverbürgung sei ihrem Wesen nach eine Eigentumswertgarantie, hat das BVerfG bereits in BVerfGE 24, 367 (405) als "Verkennung des grundlegenden Gehalts der Eigentumsgarantie" bezeichnet. Daß der Eigentümer eine angemessene Entschädigung erhält, ist lediglich ein Zulässigkeitserfordernis für die Enteignung; es muß hinzukommen, daß der Eigentumsentzug und der Eigentumserwerb dem Allgemeinwohl dienen. Die Pflicht des Eigentümers, sein Grundstück gegen Geld herzugeben, setzt voraus, daß der Entzug in jeder Richtung verfassungsmäßig ist. Dann ist die Entschädigung "eine selbstverständliche Folge" (BVerfGE 24, 367 (401)). Es ist Sache des Eigentümers zu entscheiden, ob er dem Objekt oder der Entschädigung den Vorzug gibt, wenn seine Sache der öffentlichen Aufgabe nicht zugeführt worden ist.
III. Steht damit fest, daß Art. 14 GG dem Enteigneten grundsätzlich das Recht gibt, sein früheres Eigentum zurückzuverlangen, wenn der Enteignungsgrund wegfällt, weil der Begünstigte das Vorhaben nicht verwirklicht, dann durfte das BVerwG dem Beschwerdeführer diesen Anspruch nicht deshalb versagen, weil sein Inhalt und die Voraussetzungen seiner Geltendmachung von der Rechtsprechung nicht umrissen werden könnten. Art. 14 GG enthält freilich keine Fixierung von Entstehungszeitpunkt und der Frist zur Ausübung des Rückübereignungsanspruchs oder eine Regelung über die Auswirkungen von Verwendungen. Es wäre angezeigt, daß der Gesetzgeber die Modalitäten dieses verfassungsrechtlichen Anspruchs regelt. Solange dies nicht geschieht ist aber - jedenfalls in Fällen der hier vorliegenden Art - der richterlichen Rechtsfindung keine unüberwindliche Schranke gesetzt (vgl. BVerfGE 34, 269 (286 ff.); 37, 67 (81 f.)).
Der Richter wird, wenn er den Zusammenhang des Enteignungsrechts für öffentliche Straßen und Wege mit dem einschlägigen Planfeststellungsrecht bedenkt, sich hinsichtlich der Frist etwa an folgenden Regelungen orientieren: Nach § 42 Abs. 1 Nr. 4 des Straßengesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen vom 28.11.1961 (GVBl. (GVBl. S. 305) ist die Enteignung zugunsten einer Straße davon abhängig, daß "das Grundstück innerhalb angemessener Frist zu dem vorgesehenen Zweck verwendet werden soll"; nach § 39 Abs. 5 tritt der Plan außer Kraft, wenn "er nicht innerhalb von fünf Jahren nach Eintritt der Unanfechtbarkeit durchgeführt" oder auf weitere fünf Jahre verlängert wird. Diese Vorschrift stimmt mit einer Reihe vergleichbarer Vorschriften im Bundes- und Landesrecht überein (wird weiter ausgeführt).
Auch in einer Reihe von Enteignungsvorschriften wird die Zeitspanne für die Durchführung eines Unternehmens dahin begrenzt, daß es innerhalb von zwei oder höchstens drei Jahren seit der rechtskräftigen Enteignung begonnen und innerhalb von fünf Jahren zu Ende geführt sein muß (z. B. Art. 53 Abs. 1 des bayer. Ödlandgesetzes vom 6.3.1923 (GVBl. S. 89), § 12 Abs. 3 des hessischen Aufbaugesetzes vom 25.10.1948 (GVBl. S. 139), § 57 des rheinland-pfälzischen Aufbaugesetzes vom 1.8.1949 (GVBl. I S. 317), § 46 Abs. 8 des nordrhein-westfälischen Aufbaugesetzes vom 29.4.1950 (GVBl. S. 78), § 49 Abs. 5 des schleswig-holsteinischen Aufbaugesetzes vom 21.5.1949 (GVBl. S. 93), § 57 Abs. 1 des Landbeschaffungsgesetzes vom 23.2.1957 (BGBl. I S. 134)).
Ob Art. 14 GG für den Rückübereignungsanspruch solche oder großzügiger bemessene Fristen setzt, kann dahinstehen. Jedenfalls ist im vorliegenden Fall seit der Enteignung im Jahre 1950 inzwischen eine so lange Zeit verstrichen, daß der Anspruch an der Frist nicht mehr scheitern kann. Wegen der Abwicklung im übrigen kann sich das Gericht an bestehenden Regelungen orientieren.