Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 27.04.1971 - 6 V 71 = DÖV 1972 S. 318
Aktenzeichen | 6 V 71 | Entscheidung | Beschluss | Datum | 27.04.1971 |
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Gericht | Bayerischer Verwaltungsgerichtshof | Veröffentlichungen | = DÖV 1972 S. 318 | Lieferung | N/A |
Leitsätze[Quelltext bearbeiten]
1. | Zur Frage der Zulässigkeit der "reformatio in peius" im Widerspruchsverfahren. |
Aus den Gründen
Die Regierung hat die Beschwer des Ast. dadurch vermehrt, daß sie den Erstbescheid auch insoweit, als darin ein bestimmter Waffenschein (zum Führen einer Gaspistole bei Ausübung der Tätigkeit als Rechtsbeistand) gewährt worden war, aufgehoben und den begehrten Waffenschein (zum unbeschränkten Führen einer Selbstschutzwaffe) schlechthin versagt hat. Da der Ast. sich bereits durch den Ausgangsbescheid beschwert gefühlt hat und da er nach wie vor mehr begehrt, als ihm dieser Bescheid zuerkennen wollte, liegt in der Vermehrung der Beschwer durch den Widerspruchsbescheid weder eine erstmalige Beschwer i.S.d. § 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO noch eine selbständige Beschwer i.S.d. § 79 Abs. 2 VwGO (vgl. VGHE v. 10.2.1970, Nr. 40 V 68). Der Widerspruchsbescheid ist vielmehr lediglich als eine Neufassung des Ausgangsbescheids zu werten; entspr. der Regel des § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist damit Gegenstand des Hauptsacheverfahrens der Ausgangsbescheid in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid erhalten hat. Dies bedeutet, daß in dem Hauptsacheverfahren nur von der gänzlichen Versagung des beantragten Waffenscheins auszugehen ist und daß die geeignete Klageart ... die Verpflichtungsklage ist ... (Ihr) kommt jedoch, wie sich aus ... § 80 Abs. 1 VwGO eindeutig ergibt, aufschiebende Wirkung nicht zu. Daß einem Kl. die begehrte Rechtsposition vorläufig gewährt werden müßte, könnte allenfalls mit Hilfe ... einer einstw. Anordnung nach § 123 VwGO erreicht werden (vgl. VGH n.F. 23, 97).
Der vorl. Fall weist nun die Besonderheit auf, daß der Ast. auf Grund des Ausgangsbescheids ... bereits in den Besitz eines Waffenscheins, ... wenn auch mit einer nicht erwünschten Einschränkung ..., gekommen war. Die Reg. hat daher in ihrem Widerspruchsbescheid nach der gänzlichen Versagung des begehrten weitergehenden Waffenscheins angeordnet ... Diese Rückgabeanordnung ist eine selbständige hoheitl. Anordnung, die eine durch die Versagung des Waffenscheins ausgelöste Handlungspflicht des Ast. ... konkretisiert, und die der Vollstreckung fähig wäre. Insoweit wäre, da nach den Umständen des Falles der Besitz des Waffenscheins keine angepaßte Rechtsposition darstellt (vgl. Eyermann-Fröhler, Nr. 12 zu § 80 VwGO), der mit der Verpflichtungsklage verbundenen Anfechtungsklage auf Aufhebung auch der Rückgabeanordnung an sich die aufsch. Wirkung ... zugekommen. Die Widerspruchsbehörde hat, um diese Folge zu vermeiden, gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO - als im öffentl. Interesse liegend - den sofortigen Vollzug der Rückgabeverfügung angeordnet. Der Ast. konnte deshalb gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die Wiederherstellung der aufsch. Wirkung ... beantragen.
... Bei summarischer Prüfung, wie sie im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO nur möglich ist, läßt sich nicht sagen, daß die Klage gegen die Rückgabeverfügung materiell-rechtl. offensichtlich begründet erschiene und deshalb eine sofortige Vollziehung dieser Verfügung nicht gerechtfertigt wäre ... Die ... Ansicht des Ast., daß der Ausgangsbescheid schon deshalb wieder herzustellen sei, weil sein Widerspruch zu keiner "reformatio in peius" habe führen können, ist nicht stichhaltig. Ein Verbot einer "reformatio in peius" für den Bereich des Vorverfahrens ergibt sich weder aus dem Gesetz, noch folgt es etwa zwingend aus Grundsätzen des gegebenen Rechtsschutzsystems. Die Frage der Zulässigkeit einer Verböserung im Widerspruchsverfahren hängt vielmehr, wie beim Widerruf eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts, von einer Abwägung der widerstreitenden Interessenlagen ab, nämlich des Vertrauensschutzes des Betroffenen einerseits und dem Interesse an der Herstellung eines gesetzmäßigen Zustands andererseits. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Vertrauensschutz eines Widerspruchsführers dadurch gemindert ist, daß er mit seinem Widerspruch selbst die Ursache für die Unbeständigkeit des Erstbescheids gesetzt hat. Das staatl. Interesse an der Herstellung eines gesetzmäßigen Zustands in Form einer Verböserung muß daher i. d. R. als stärker gewertet werden und kann zumindest auch dann durchgesetzt werden, wenn Ausgangs- und Widerspruchsbehörde identisch sind oder, wie hier, demselben Hoheitsträger angehören und deshalb zu einer uneingeschränkten Prüfung und zum Erlaß eines inhaltl. neuen Verwaltungsakts mit reinem Rechtscharakter befugt sind. Aus dieser Erwägung heraus läßt die wohl h. M., der sich der Senat anschließt, im Widerspruchsverfahren eine "reformatio in peius" zu (vgl. BVerwGE 14, 175 = DÖV 1964, 58; Eyermann-Fröhler, RdNr. 7 zu § 73 VwGO; Redeker-v. Oertzen, RdNr. 16 zu § 73 VwGO).