Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26.05.1978 - 5 C 43.76 = Buchholz FlurbG § 139 Nr. 8

Aktenzeichen 5 C 43.76 Entscheidung Urteil Datum 26.05.1978
Gericht Bundesverwaltungsgericht Veröffentlichungen = Buchholz FlurbG § 139 Nr. 8  Lieferung N/A

Leitsätze[Quelltext bearbeiten]

1. Zur Frage, ob eine distanzierte Beteiligung eines Beisitzers an der Beweisaufnahme einer vorübergehenden Abwesenheit eines Mitglieds des Gerichts gleichgesetzt und damit einen wesentlichen Verfahrensmangel nach § 133 Nr. 1 VwGO - unvorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts - bilden kann.
2. Ein Verstoß gegen den prozeßrechtlichen Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung betrifft nicht die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts. Ein dahingehender Verfahrensfehler eröffnet nicht eine zulassungsfreie Revision.

Aus den Gründen

Die Verfahrensrevision ist als unzulässig zu verwerfen.

Einer Zulassung der Revision gegen das Urteil des Flurbereinigungsgerichts bedarf es nicht, wenn als wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird, daß das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen sei (§ 133 Nummer 1 VwGO). Auf das Vorliegen eines solchen Verfahrensfehlers berufen sich die Kläger. Sie führen dafür wörtlich lediglich folgendes an:

"Während der Beweisaufnahme, das heißt, während der Ortsbesichtigung der Flur 14 Nummer 97 war der ehrenamtliche Richter, Ökonomierat B., nicht zugegen. Er ist vielmehr auf dem Rand der Parzelle stehengeblieben und hat sich diese Parzelle nicht mit angesehen". Dieses Vorbringen reicht für die Zulässigkeit des geltend gemachten Verfahrensfehlers jedoch nicht aus.

Nach der Rechtsprechung ist eine zulassungsfreie Verfahrensrevision nur dann zulässig, wenn der geltend gemachte, im Sinne des § 133 VwGO qualifizierte Verfahrensmangel schlüssig dargelegt ist (vgl. Beschlüsse vom 26.6.1964 - BVerwG 7 C 150.63 - (Gew.Arch. 1964, 264 = DVBl 1965, 404 = Buchholz 310 § 139 VwGO Nummer 14 = JVBl 1964, 257), vom 5. März 1971 - BVerwG 4 CB 103.67 - (RdL 1971, 161 = Buchholz 310 § 138 Nummer 1 VwGO Nummer 11) und vom 1.6.1973 - BVerwG 6 C 15.73 - (DRiZ 1973, 358 = Buchholz 310 § 138 Ziffer 1 VwGO Nummer 15 = HFR 1974, 121); Urteil vom 15.4.1977 - BVerwG 4 C 31.76 - (DVBl 1978, 112)). Daran fehlt es hier, weil sich aus den dem vorgetragenen Geschehensablauf zu entnehmenden Tatsachen - deren Richtigkeit unterstellt - nicht schlüssig ergibt, daß der die zulassungsfreie Revision rechtfertigende qualifizierte Verfahrensmangel der unvorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts ohne weiteres daraus hergeleitet werden kann.

Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Der benannte ehrenamtliche Richter war als Beisitzer nach § 139 Absatz 3 Satz 1 FlurbG vorschriftsmäßiges Mitglied des nach § 139 Absatz 1 FlurbG besonders zusammengesetzten Flurbereinigungsgerichts. Er hat nach dem Protokoll als berufenes Mitglied des Flurbereinigungsgerichts an der mündlichen Verhandlung vom 15.3.1976, an der Ortsbesichtigung vom 17.3.1976 und der sich daran anschließenden mündlichen Verhandlung ohne Unterbrechung teilgenommen und an der aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung beruhenden Erkenntnis mitgewirkt (§ 108 Absatz 1 VwGO). Die Richterbank war danach vorschriftsmäßig besetzt, nicht nur während der mündlichen Verhandlung, sondern auch, als das Gericht auf die getroffene Entscheidung erkannt hat.

Ein Mangel der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung kann indessen auch vorliegen, wenn das Gericht in eine, dem "Erkennen" unmittelbar vorangehenden Prozeßstadium nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Insbesondere können bei der Beweisaufnahme durch Augenscheinseinnahme wie zum Beispiel bei der Ortsbesichtigung mit sich daran anschließender mündlicher Verhandlung, auf die das Urteil ergeht, Besetzungsfehler dadurch auftreten, daß ein ordnungsmäßiges Mitglied des zur Entscheidung berufenen Gerichts infolge physischer Gebrechen oder psychischer Defekte verhindert ist, die für die richterliche Überzeugungsbildung erforderlichen Funktionen - wahrnehmen und urteilen - auszuüben. Von der Rechtsprechung wird deshalb eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts unter anderem bei vorübergehender kurzfristiger Abwesenheit eines mitwirkenden Richters angenommen (Urteil vom 27.4.1961 - BVerwG 2 CB 81.60 - (DÖV 1961, 558 = Buchholz 310 § 138 Ziffer 1 VwGO Nummer 2)); ferner, wenn ein mitwirkender Richter vom Schlaf so übermannt wird, daß er wesentlichen Vorgängen während einer nicht unerheblichen, nach Lage des Falles ins Gewicht fallenden Zeitspanne nicht zu folgen vermag (Urteil vom 6.5.1965 - BVerwG 8 C 161.60 - (Buchholz 310 § 138 Ziffer 1 VwGO Nummer 8 = AP § 551 ZPO Nummer 5 und die dort angeführte Rechtsprechung)).

Ein solcher Sachverhalt wird hier indessen nicht behauptet; es wird aber die gleiche Rechtsfolge dafür in Anspruch genommen, daß der benannte ehrenamtliche Beisitzer bei der Ortsbesichtigung der in Augenschein genommenen bezeichneten Parzelle - obwohl an Ort und Stelle zugegen - am Rand stehengeblieben ist. Damit ist aber nicht schlüssig dargetan, daß dieser zur Mitwirkung berufene Beisitzer weder in der Lage noch fähig war, die für das Gesamtergebnis maßgebenden Vorgänge des Beweisverfahrens zu verfolgen und sachgerecht zu beurteilen. Nach dem in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung festgehaltenen Beweisbeschluß vom 15.3.1976 und der Begründung des angefochtenen Urteils diente die Ortsbesichtigung der bezeichneten Parzelle einmal dazu, durch Vergleich der dem behördlichen Schätzungsrahmen zugrundegelegten Bodenproben und Klassenbeschreibungen mit den vom Gericht entnommenen Bodenproben festzustellen, ob wegen schwerwiegender Schätzungsfehler eine nachträgliche Zulassung von Einwendungen gegen die festgestellten Schätzungsergebnisse gerechtfertigt sein könnte. Andererseits sollte damit geprüft werden, ob die auf der bezeichneten Parzelle vorhandenen Naßstellen eine wesentliche Wirtschaftserschwernis darstellten. Nach dem Protokoll über die Ortsbesichtigung vom 17.3.1976 wurde Flur 14 Nummer 97 von dem gesamten Gericht in Augenschein genommen. Daß eine unmittelbare Sinneswahrnehmung über Größe, Lage, Kulturzustand und äußere Beschaffenheit der bezeichneten Parzelle einschließlich der beiden berücksichtigten, etwa 50 qm und 1 1/2 a großen Naßstellen für den Beisitzer B. vom Rand des Grundstücks aus nicht möglich oder erheblich erschwert gewesen sein sollte, wird von den Klägern selbst nicht behauptet. Die Befunde der im nördlichen und südöstlichen Teil und am Nordrand des Planes gegrabenen Bohrlöcher sind im Protokoll festgehalten. Daß der benannte Beisitzer die zum Vergleich mit den behördlichen Befunden heranzuziehenden Bodenproben vom Rand aus - von welcher geographisch einzuordnenden Grundstücksbegrenzung und in welcher Entfernung von den einzelnen Bohrlöchern ist nicht angegeben - nicht habe mitverfolgen können, wurde von den Klägern weder näher dargelegt noch hinreichend erkennbar gemacht. Den an die Schlüssigkeit solcher qualifizierter Verfahrensmängel zu stellenden Anforderungen ist damit nicht genügt. Daß der der Ortsbesichtigung beiwohnende Beisitzer die gegrabenen Bohrlöcher persönlich hätte einsehen und die dabei vorgefundenen Erdsubstanzen hätte eigenhändig betasten oder sonstwie sinnesorganisch hätte eingehender wahrnehmen müssen, wird von den Klägern selbst nicht gefordert. Daß der Beisitzer die schriftlichen, im Protokoll festgehaltenen Befunde mit den schriftlichen behördlichen Ergebnissen bei der über das Ergebnis der Beweisaufnahme fortgeführten mündlichen Verhandlung nicht habe vergleichen und beurteilen können, wird von den Klägern ebenfalls nicht behauptet. Sie haben bei der Fortsetzung der mündlichen Verhandlung, bei der die Beteiligten Gelegenheit erhielten, zur Beweisaufnahme Stellung zu nehmen, auch nicht auf den ihrer Meinung nach vorhandenen Besetzungsmangel der erkennenden Richterbank hingewiesen, obwohl der Bevollmächtigte der Kläger und der Kläger zu 1.) bei Durchführung der Beweisaufnahme anwesend waren.

Der von den Klägern angeführte Standort des ehrenamtlichen Beisitzers während des indizierten Teiles der Ortsbesichtigung, bei der mangels näherer tatsächlicher Darlegungen eine Wahrnehmung der wesentlichen Vorgänge objektiv nicht ausgeschlossen werden kann, erlaubt deshalb nicht, diesen Beisitzer schlechthin als abwesend anzusehen. Die nicht auszuschließende distanzierte Betrachtungsmöglichkeit führt auch nicht ohne weiteres dazu, den zur Mitwirkung berufenen Beisitzer wie einen vorübergehend abwesenden Richter zu behandeln.

Die Zulässigkeit des eingelegten Rechtsmittels ist danach zu verneinen, weil nicht schlüssig dargetan ist, daß der zur Mitwirkung bei der angefochtenen Entscheidung berufene ehrenamtliche Beisitzer weder in der Lage noch fähig war, von seinem am Rand der Parzelle befindlichen Standort aus die für das Gesamtergebnis maßgebenden Vorgänge des Beweisverfahrens wahrzunehmen und sachgerecht zu beurteilen, zumal nach der Rechtsprechung bei einer Ortsbesichtigung es die Regel ist, daß die das Gerichtskollegium bildenden Richter nicht so unmittelbar beieinandersitzen oder -stehen wie im Gerichtssaal (vgl. Beschluß vom 11.5.1965 - BVerwG 4 B 125.64 -).

Der Behandlung solcher behaupteter Fehler der ordnungsmäßigen Besetzung des Gerichts als absoluten Revisionsgrund im Sinne des § 138 Nummer 1 VwGO steht - unter Außerachtlassung der Schlüssigkeitsanforderungen hierfür - noch folgende Überlegung entgegen.

Diese Überlegung kommt - zumal die darauf basierende rechtliche Konstruktion bereits Eingang in die Rechtsprechung auch des Bundesverwaltungsgerichts gefunden hat - einer Änderung des rechtlichen Gesichtspunkts gleich. Die Beteiligten sind deshalb gemäß § 104 Absatz 1 VwGO in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen worden.

Diese rechtliche Überlegung geht davon aus, daß Verfahrensfehler bei der Beweisaufnahme, die scheinbar die ordnungsmäßige Besetzung des Gerichts tangieren, bei näherer Betrachtung nur Verstöße gegen § 96 VwGO bilden, damit nicht die Verletzung von Vorschriften betreffen, auf deren Befolgung eine Partei wirksam nicht verzichten kann. Die Verletzung des § 96 VwGO betrifft danach nicht die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts, wenn "das erkennende Gericht", wie hier, in ordnungsgemäßer Besetzung die mündliche Verhandlung durchgeführt hat und auch bei der Beweisaufnahme gleicherweise vollständig besetzt war. Die im Protokoll aufgeführten Richter, die bei Durchführung der Ortsbesichtigung zugegen waren, waren ordnungsmäßige Mitglieder des zur Entscheidung berufenen Flurbereinigungsgerichts. Deren Mitwirkung verletzte deshalb nicht den Verfahrensgrundsatz, daß an einer gerichtlichen Entscheidung und deren Vorbereitung nur der "gesetzliche Richter" mitwirken darf.

Der angeführte Standort am Rand der Parzelle, den der benannte ehrenamtliche Richter bei der Augenscheinseinnahme der bezeichneten Parzelle eingenommen bzw. beibehalten haben soll, könnte danach allenfalls einen Verstoß gegen den prozeßrechtlichen Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung bilden. Ein Verstoß gegen diese prozeßrechtliche Regelung, die in § 96 Absatz 1 VwGO ihren gesetzlichen Niederschlag gefunden hat, betrifft jedoch nicht die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts, sondern den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (vgl. BVerwGE 41, 174 (177) und die dort angeführte Literatur und Rechtsprechung). Da nach der Rechtsprechung die prozeßrechtlichen Vorschriften über die Beweiserhebung weitgehend nicht derart zwingend sind, daß die Beteiligten auf ihre Befolgung nicht wirksam verzichten könnten, gilt dies auch für einen Verstoß gegen die Beweiserhebungsregelung in § 96 VwGO, wobei dahingestellt bleiben kann, ob die Kläger sich hier insoweit einen Verlust des Rügerechts nach § 295 Absatz 1 ZPO entgegenhalten lassen müßten, wenn diese Frage zur Prüfung gestellt werden könnte.

Die Revision müßte deshalb selbst dann, wenn die mit der erhobenen Rüge vorgebrachten Umstände als ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Sinne des § 96 Absatz 1 VwGO qualifiziert werden könnten, als unzulässig verworfen werden, weil ein dahingehender Verfahrensfehler durch § 133 VwGO nicht erfaßt wird und eine zulassungsfreie Revision nicht eröffnet.