Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 09.07.1975 - VI C 18/75 = NJW 1976 S. 74
Aktenzeichen | VI C 18/75 | Entscheidung | Beschluss | Datum | 09.07.1975 |
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Gericht | Bundesverwaltungsgericht | Veröffentlichungen | = NJW 1976 S. 74 | Lieferung | N/A |
Leitsätze[Quelltext bearbeiten]
1. | Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. |
Aus den Gründen
Der Kläger hat die Klagefrist (§ 74 VwGO) versäumt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann ihm schon deshalb nicht gewährt werden, weil er die zur Begründung einer Wiedereinsetzung in Betracht kommenden Tatsachen nicht rechtzeitig vorgetragen hat. Nach § 60 II 1 VwGO ist ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen; nach S. 2 dieser Vorschrift sind die zur Begründung des Antrags dienenden Tatsachen bei der Antragstellung oder im Laufe des Verfahrens über den Antrag glaubhaft zu machen. Aus dem Sinn und dem Zusammenhang dieser Regelungen ergibt sich, daß die Tatsachen, die zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags dienen sollen, mit dem Antrag oder jedenfalls innerhalb der Antragsfrist vorzubringen sind (vgl. Urt. vom 29.2.1968 - II C 16/64 (Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 531); OVG Koblenz, NJW 1972, 2326; Eyermann - Fröhler, VwGO, 6. Aufl. (1974), § 60 Rdnr. 17; Redeker - von Oertzen, VwGO, § 60 Anm. 13). Nur so ist die zügige und sachgemäße Behandlung des Wiedereinsetzungsbegehrens gewährleistet, die erforderlich ist, um die Unsicherheit, ob es bei den Folgen der Fristversäumnis bleibt oder nicht, in engen Grenzen zu halten. Wenn auch - wie im vorliegenden Fall - eine ausdrückliche Antragstellung bei Nachholen der versäumten Handlung innerhalb der Antragsfrist entbehrlich ist (§ 60 II 4 VwGO), so berührt das die Pflicht zu fristgemäßem Tatsachenvortrag nicht, falls nicht alle in Betracht kommenden Tatsachen für das Gericht offenkundig sind (so auch OVG Koblenz, NJW 1972, 2326). Da die Gründe, die zur Versäumung der Klagefrist durch den Kläger geführt haben, für das Gericht nicht ersichtlich waren, hätte der Kläger binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses diese Gründe dem Gericht vortragen müssen.
Da der Kläger somit die Frist zum Vortrag von Wiedereinsetzungsgründen versäumt hat, kann dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Klagefrist nicht gewährt werden. Wiedereinsetzung wegen dieser zweiten Fristversäumung kommt nicht in Betracht. Dabei kann offenbleiben, ob Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Frist des § 60 II 1 VwGO überhaupt zulässig ist (bejahend Eyermann - Fröhler, § 60 Rdnr. 23; verneinend BGHZ 7, 194 = NJW 1952, 1414; offengelassen im Beschl. vom 27.1.1964 - V B 12/63 - (LS. in DÖV 1964, 567 Nr. 227)); denn jedenfalls war der Kläger nicht ohne sein Verschulden an der Fristwahrung verhindert. Er kann sich insbesondere nicht auf Rechtsunkenntnis berufen, da es sich auch einem nicht juristisch Ausgebildeten aufdrängt, daß ein ihm unterlaufener prozessualer Fehler unverzüglich zu korrigieren ist.
Einer abschließenden Beantwortung der Frage, ob die verspätet geltend gemachten Gründe eine Wiedereinsetzung rechtfertigen, bedarf es nach alledem nicht. Jedoch sei auf folgendes hingewiesen: Die Auffassung der Revision, nach Wegfall des Hindernisses stehe einem Rechtsmittelführer stets, also auch dann, wenn die rechtzeitige Rechtsmitteleinlegung technisch noch möglich ist, eine "gesetzliche Mindestfrist von 14 Tagen zur Beratung und Überlegung" zu, begegnet erheblichen Bedenken. Dem Gesetz ist eine solche Regelung nicht zu entnehmen. Die Zweiwochenfrist des § 60 II 1 VwGO zielt darauf ab, die Geltendmachung des Wiedereinsetzungsbegehrens zu beschleunigen, und nicht, dem Säumigen eine Überlegungsfrist zu gewähren. Ist eine Frist nicht eingehalten, weil die nach Abzug der Zeit, in der ein Hindernis bestand, verbleibende Zeit der Frist für eine angemessene Beratung und Überlegung nicht ausreichte, so ist die Fristversäumung durch das inzwischen entfallende Hindernis nur mittelbar verursacht. Unmittelbarer, im Zeitpunkt des Fristablaufs maßgeblicher Grund für die Versäumung ist die bis dahin bestehende Unmöglichkeit der Überlegung und Beratung. Hieran wird im Einzelfall anzuknüpfen sein. Es wird dann darauf ankommen, ob der Säumige insofern - insbesondere im Hinblick auf den Grad der Schwierigkeit der rechtlichen Beurteilung der Aussichten eines Rechtsmittels - ohne Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten (vgl. BVerwG, RzW 1963, 288 = Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 20 = JR. 1963, 234 und BGH, VersR 1971, 1122). Dabei mag im Einzelfall eine Orientierung an der Zweiwochenfrist in Betracht kommen, sie ist aber nicht bindend (insofern a. A. Eyermann - Fröhler, § 60 Rdnr. 22). Eine solche starre Bindung statt einer auf die Umstände des einzelnen Falls bezogenen Würdigung wäre auch - wie gerade der vorliegende Fall zeigt - sinnwidrig. Der Kläger hatte sich zu einem Zeitpunkt, als die rechtzeitige Erhebung der Klage technisch noch möglich war, zu ihr entschieden und die Klageschrift gefertigt. Die Fristversäumung beruhte allein auf den Umständen der Absendung und stand mit Fragen der Überlegung und Beratung in keinem Zusammenhang. Dem Säumigen unter diesem, nicht rechtserheblich gewordenen Aspekt Nachsicht zu gewähren, besteht kein Grund. Maßgebend müßte vielmehr sein, ob es dem Kläger zur Last zu legen ist, daß er den Brief unter Umständen aufgegeben hat, die einen fristgemäßen Eingang beim VG nicht gewährleisteten.