Bundesverwaltungsgericht, Beschluss Großer Senat vom 01.11.1965 - Gr. Sen. 2/65 = BVerwGE 22, 281= NJW 1966 S. 563= DVBl 1966 S. 312
Aktenzeichen | Gr. Sen. 2/65 | Entscheidung | Beschluss Großer Senat | Datum | 01.11.1965 |
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Gericht | Bundesverwaltungsgericht | Veröffentlichungen | = BVerwGE 22, 281 = NJW 1966 S. 563 = DVBl 1966 S. 312 | Lieferung | N/A |
Leitsätze[Quelltext bearbeiten]
1. | Die VwGO enthält keine unmittelbar oder entsprechend anwendbare Regelung des Inhalts der Kostenentscheidung nach § 72 VwGO. |
Aus den Gründen
Die von der beklagten Gemeinde getroffene und wieder aufgehobene Verfügung ist in Ausführung eines mit Zustimmung des Bundesrats erlassenen Bundesgesetzes, des Wohnraumbewirtschaftungsgesetzes, ergangen. Die Zuständigkeit des Bundes zur Regelung der Pflicht, die Kosten des Widerspruchsverfahrens zu tragen, wenn sich nicht ein Rechtsstreit anschließt, könnte sich aus Art. 74 Nr. 1 GG oder auch aus Art. 84 Abs. 1 GG ergeben. Im ersteren Falle würde die Bejahung der Bundeskompetenz voraussetzen, daß das Widerspruchsverfahren, auch wenn es nicht zu einem Rechtsstreit führt, einschließlich der Kostenregelung dem gerichtlichen Verfahrensrecht zuzurechnen ist. Im zweiten Fall würde, da besondere Verfahrensvorschriften im Wohnraumbewirtschaftungsgesetz über die Kostentragung fehlen, davon auszugehen sein, daß die VwGO allgemein eine Regelung des Widerspruchsverfahrens bei der Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder als eigene Angelegenheit enthält und somit die betreffenden Bundesgesetze jeweils ergänzt, soweit keine Sonderregelung geschaffen worden ist. Da sowohl die VwGO als auch das Wohnraumbewirtschaftungsgesetz mit Zustimmung des Bundesrats ergangen sind, könnte eine derartige allgemeine ergänzende Regelung noch als im Rahmen des Art. 84 Abs. 1 GG liegend in Betracht kommen.
Die Frage der Bundeskompetenz auf Grund der einen oder der anderen Vorschrift kann jedoch unentschieden bleiben. Der Große Senat ist der Auffassung, daß eine bundesrechtliche Regelung der Kosten des Widerspruchsverfahrens, wenn sich nicht ein Rechtsstreit anschließt, nicht vorliegt und der VwGO insbesondere auch nicht ein allgemeiner, dem Bundesrecht angehörender Rechtssatz über die Pflicht zur Kostentragung bei Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts im Widerspruchsverfahren zugrunde liegt. Es ist nicht zu verkennen, daß der den Prozeßordnungen geläufige Grundsatz (vgl. auch §§ 156 VwGO, 93 ZPO, dazu Rosenberg, Zivilprozeßrecht, 9. Aufl., § 79 III 4), der Beklagte, der nach Klageerhebung den Kläger klaglos stellt, habe die Kosten zu tragen, einer allgemeinen Überzeugung entspricht. Auch scheint - worauf bereits der VII. Senat in seinen Urteilen v. 6.12.1963 (BVerwGE 17, 245 und 246 = NJW 64, 686), die allerdings nicht die Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder als eigene Angelegenheit betrafen, hingewiesen hat - eine gewisse Rechtsähnlichkeit zwischen dem Fall zu bestehen, in dem dem Bürger die notwendigen Kosten, die in einem Widerspruchsverfahren entstanden, erstattet werden, wenn die Behörde im Prozeß unterliegt (§§ 154, 162 VwGO), und dem Fall, in dem die Behörde den Verwaltungsakt bereits im Widerspruchsverfahren in Erkenntnis der Rechtswidrigkeit zurückgenommen hat. Diese allgemeinen Erwägungen mögen den Gesetzgeber veranlassen, auch für die zweite Fallgruppe Kostenerstattungsregelungen zu treffen. Aber sie führen noch nicht dazu, einen Rechtssatz, der dem Bundesrecht angehört, festzustellen, der diese Erwägung schlechthin für zwingend ansieht, so daß es der Konkretisierung solcher Interessenabwägungen in Gestalt gesetzlicher Normen nicht mehr bedürfte. Es wird Sache der Gesetzgeber der Länder sein, unter Berücksichtigung der genannten allgemeinen Erwägungen die auftauchenden Fragen zu lösen. Im Wege richterlicher Rechtsschöpfung - und zwar auf der Ebene des Bundesrechts mit Bindung für das Landesrecht - erscheint dies dem Großen Senat nicht angängig.
Von Bedeutung erscheint dem Großen Senat auch die Regelung, die der Bundesgesetzgeber in §§ 72, 77 VwGO getroffen hat. Der Bundesgesetzgeber hat der Abgrenzung zwischen Verwaltungsverfahren und Verwaltungsgerichtsverfahren dadurch Rechnung getragen, daß er in § 77 Abs. 1 VwGO die bundesrechtlichen Vorschriften in anderen Gesetzen über Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren allgemein durch die Vorschriften in der VwGO ersetzt hat, die entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften jedoch lediglich, soweit sie "Voraussetzung der verwaltungsgerichtlichen Klage" darstellen. Ferner ist zu berücksichtigen, daß § 72 VwGO sich auf das Gebot beschränkt hat, im Abhilfebescheid überhaupt eine Kostenentscheidung zu treffen. Ebenso ist in § 13 VwGO über den Inhalt des Widerspruchsbescheids lediglich vorgeschrieben, daß in diesem auch über die Kostentragung entschieden werden muß.
Zwar könnte dem Gesichtspunkt Bedeutung beizumessen sein, daß die Kostenentscheidung eine Nebenentscheidung ist, die im Regelfall im Verfahren neben der Hauptentscheidung ergeht. Sie hat - von Sonderfällen wie Klagerücknahme und Erledigung der Hauptsache abgesehen - keine selbständige Bedeutung, sondern ist lediglich eine Ergänzung der Hauptentscheidung. Die Regelung der Kostentragung bildet also nichts anderes als eine Ergänzung der Vorschriften über das Verfahren selbst. Von diesem engen Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung des Verfahrens und der Regelung der Kostentragung gehen auch andere gesetzliche Vorschriften aus. Ein Beispiel hierfür bildet § 15 EGZPO, wonach bestimmte landesgesetzliche Regelungen durch die Einführung der ZPO unberührt bleiben sollten. Daraus hat das RG den Schluß gezogen, daß, soweit der Landesgesetzgeber das Verfahren regeln kann, er auch die Vorschriften über die Kostentragung erlassen darf (RGZ 34, 194). Ebenso ist der Zusammenhang zwischen Verfahrensrecht und Kostenrecht im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit geregelt, wie sich aus § 158 KostO ergibt. Bei der Entstehung der VwGO hat der Gesetzgeber diesen systematischen Zusammenhang auch erkannt. Aus den §§ 72, 77 VwGO ist jedoch gleichwohl zu entnehmen, daß er die Kostentragungspflicht im Widerspruchsverfahren, wenn sich ein Rechtsstreit nicht anschließt, von der bundesrechtlichen Regelung ausgenommen hat. Der Gesetzgeber hat die Pflicht zur Kostentragung - etwa in entsprechender Anwendung der §§ 154 ff. VwGO - auch nicht stillschweigend mitgeregelt oder auch nur in der Weise seine Zuständigkeit in Anspruch genommen, daß er die Einzelheiten der Regelung der Kostentragungspflicht der Rechtsentwicklung, insbesondere durch die Rechtsprechung, überlassen hätte. Selbst wenn davon auszugehen wäre, daß, soweit die Zuständigkeit für eine Verfahrensregelung reicht, diese sich auch auf die Regelung der damit zusammenhängenden Kostentragungspflicht erstreckt, muß, auch unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte der VwGO, den §§ 72, 77 VwGO entnommen werden, daß der Bundesgesetzgeber davon Abstand genommen hat, die Kostentragungspflicht auch für diesen Fall zu regeln. Hierfür spricht insbesondere auch der im Urteil des VII. Senats v. 6.12.1963 (BVerwGE 17, 246 = NJW 64, 686) wiedergegebene Bericht des Rechtsausschusses des Bundestags v. 12.5.1959. In diesem Bericht ist auf die Lücke ausdrücklich hingewiesen worden, die in dem Entwurf der VwGO hinsichtlich der Regelung der Kostentragungspflicht im Widerspruchsverfahren besteht, wenn sich ein gerichtliches Verfahren nicht anschließt. Dafür, daß der Bundesgesetzgeber die Kostentragungspflicht in diesem Falle bewußt nicht geregelt hat, lassen sich verschiedene Gesichtspunkte anführen. Soweit die Bundeszuständigkeit auf Grund von Art. 84 Abs. 1 GG zu bejahen wäre, ergäbe sich ein der Rechtsklarheit nicht dienender Unterschied zwischen den Widerspruchsverfahren, die die Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder als eigene Angelegenheit betreffen, und solchen Verwaltungsverfahren, die sich auf Rechtsgebiete beziehen, für deren Regelung die alleinige Zuständigkeit der Länder zu bejahen ist und eine Bundeskompetenz auch nicht nach Art. 84 Abs. 1 GG in Betracht kommen kann. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß die Zurücknahme eines Verwaltungsakts auf sehr unterschiedlichen Gründen beruhen kann und eine klare Abgrenzung der Fälle, in denen die Zurücknahme auf erwiesener Rechtswidrigkeit beruht, häufig Schwierigkeiten bereiten wird. Diese Erwägung könnte dafür sprechen, die Kostentragungspflicht elastischer unter Billigkeitsgesichtspunkten zu regeln. Sowohl das Bundesrecht als auch das Landesrecht enthalten daher auch sehr unterschiedliche Vorschriften über die Kostentragungspflicht; beispielsweise enthält § 13 a FGG eine Billigkeitsvorschrift, die nur die Erstattung von Anwaltskosten durch einen Beteiligten ermöglicht, wenn bei einer Angelegenheit mehrere Personen beteiligt sind. Nach § 147 Abs. 4 FlurbG sind die Gebühren eines Rechtsanwalts oder anderer mit der Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten befaßter Personen nur hinsichtlich der Wahrnehmung der mündlichen Verhandlung vor dem Flurbereinigungsgericht erstattungsfähig. Dies gilt nach § 147 Abs. 5 aaO sinngemäß für das Beschwerdeverfahren vor der Oberen Flurbereinigungsbehörde. Nach § 59 Abs. 8 und 9 des Gesetzes zur Bereinigung des Wertpapierwesens v. 19.8.1949 sind die Kosten eines Rechtsanwalts und sonstige außergerichtliche Kosten nicht erstattungsfähig. In § 63 AKG ist auf diese Kostenregelung verwiesen. § 20 des Vertragshilfegesetzes bestimmt, daß außergerichtliche Kosten nicht erstattet werden. Ebenso verschiedenartig sind die Vorschriften im Landesrecht. Art. 16 des bayerischen Ausführungsgesetzes zur VwGO enthält eine eingehende Kostenregelung. § 23 des saarländischen Ausführungsgesetzes beschränkt sich auf eine Regelung der Gebührenpflicht. Diesen unterschiedlichen Regelungen kann ein dem Bundesrecht angehörender, dem Landesrecht vorgehender und daher etwa der VwGO zugrunde liegender Rechtssatz über die Kostentragungspflicht im Widerspruchsverfahren, wenn sich ein Rechtsstreit nicht anschließt, nicht entnommen werden. Dabei kann die Frage, inwieweit bei der Ausführung von Bundesgesetzen durch Bundesbehörden die §§ 154 ff. VwGO entsprechend anzuwenden sind, offenbleiben. Sie ist nicht Gegenstand des Vorlagebeschlusses.