Bayer. Verwaltungsgerichtshof, Beschluss Großer Senat vom 18.03.1993 - Gr.S. 1/1992 = 1 B 90.3063
Aktenzeichen | Gr.S. 1/1992 | Entscheidung | Beschluss Großer Senat | Datum | 18.03.1993 |
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Gericht | Bayer. Verwaltungsgerichtshof | Veröffentlichungen | = 1 B 90.3063 | Lieferung | N/A |
Leitsätze[Quelltext bearbeiten]
1. | Entspricht ein Vorhaben den von der Bauaufsichtsbehörde im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften, so darf die Baugenehmigung erteilt werden, auch wenn noch offen ist, ob eine andere öffentlich-rechtliche Gestattung erteilt werden kann, die für das Vorhaben neben der Baugenehmigung erforderlich ist (wie z. B. Zustimmung nach § 34 Abs. 1 Nr. 2 FlurbG). Das gilt nicht, wenn gesetzlich Abweichendes bestimmt ist. |
Aus den Gründen
Art. 74 Abs. 1 BayBO ist eine Vorschrift des Landesrechts, über deren Auslegung der Verwaltungsgerichtshof endgültig entscheidet. Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, in denen sich dieses mit der Reichweite der baurechtlichen Genehmigung auseinandergesetzt hat (vgl. z. B. BVerwGE 74, 315/324 ff.; 80, 259; 84, 11; BVerwG vom 28.11.1991 NVwZ 1992, 569), lassen die Richtigkeit dieser Auffassung nicht zweifelhaft erscheinen. Es geht in diesen Entscheidungen primär um die - von der Vorlagefrage zu trennenden - Fragen, wie die sich zum Teil überschneidenden sachlichen (bundesrechtlichen) Prüfungsmaßstäbe der verschiedenen Gestattungsbehörden so voneinander abzugrenzen sind, daß über jeden Gesichtspunkt nur einmal entschieden wird, und ob eine Behörde an die Entscheidung einer anderen gebunden ist.
Die Rechtsfrage war zwar solange nicht entscheidungserheblich, als die Sanierungssatzung der Beigeladenen (vgl. § 142 BauGB) nichtig war und damit eine Genehmigungspflicht nach § 144 BauGB nicht bestand. Nachdem jedoch die Satzung nunmehr ausgefertigt und nochmals bekanntgemacht worden ist, kann im vorliegenden Verfahren von ihrer Gültigkeit und somit von einer Genehmigungspflicht nach § 144 BauGB ausgegangen werden.
In der Sache selbst teilt der Große Senat die Auffassung des vorlegenden Senats. Eine Auslegung des Art. 74 Abs. 1 BayBO nach den allgemein anerkannten Auslegungsregeln (VGH n. F. 25, 27/30 m. w. N.) ergibt, daß die Bauaufsichtsbehörde in Fällen, in denen das Vorhaben mit den von ihr im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften im Einklang steht, mit der Erteilung der Baugenehmigung nicht warten muß, bis geklärt ist, ob eine andere öffentlich-rechtliche Gestattung erteilt werden kann, die für das Vorhaben neben der Baugenehmigung erforderlich ist.
Nach Art. 74 Abs. 1 BayBO darf die Baugenehmigung nur versagt werden, wenn das Vorhaben öffentlich-rechtlichen Vorschriften widerspricht. Die Baugenehmigungsbehörde hat also die Vereinbarkeit des Vorhabens mit "öffentlich-rechtlichen Vorschriften" zu überprüfen. Der Gesetzeswortlaut unterscheidet nicht nach der Art anderer Gestattungen; die Vorlagefrage kann also nur allgemein beantwortet werden und nicht verschieden von Fall zu Fall, je nachdem, um welche andere Gestattung es sich handelt.
Art. 74 Abs. 1 BayBO ist unstreitig von vornherein einschränkend dahin auszulegen, daß dann, wenn nach dem Gesetz die Vereinbarkeit des Vorhabens mit ganz bestimmten öffentlich-rechtlichen Vorschriften in einem anderen Gestattungsverfahren von einer anderen als der Bauaufsichtsbehörde zu überprüfen ist, dieselbe Prüfung nicht zusätzlich auch noch von der Bauaufsichtsbehörde im Baugenehmigungsverfahren vorzunehmen ist. Die Einführung eines besonderen Gestattungsverfahrens durch den Gesetzgeber wäre sonst überflüssig. So ist es im Falle des § 144 BauGB nicht Sache der Baugenehmigungsbehörde, auch ihrerseits das Vorliegen eines Versagungsgrundes nach § 145 Abs. 2 BauGB im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen; die Prüfungskompetenz liegt vielmehr bei der Gemeinde. Im Falle des § 34 FlurbG prüft die Flurbereinigungsbehörde, ob das Vorhaben der Flurbereinigung dienlich ist oder es die Ausführung der zur Neugestaltung des Flurbereinigungsgebietes erforderlichen Maßnahmen beeinträchtigt (BVerwG vom 25.04.1989 NVwZ 1990, 366). Der 2. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes hat bereits in seinen Entscheidungen vom 25.05.1977 (VGH n. F. 30, 115 = BayVBl. 1978, 179) und vom 12.07.1983 (BayVBl. 1983, 532) dargelegt, daß der sich aus Art. 91 Abs. 1 BayBO a. F. = Art. 74 Abs. 1 BayBO n. F. ergebende Grundsatz, wonach ein baugenehmigungspflichtiges Vorhaben an allen öffentlich-rechtlichen Vorschriften zu messen ist, insoweit nicht gilt, als die Vereinbarkeit des Vorhabens mit bestimmten öffentlich-rechtlichen Vorschriften in einem gesonderten Verfahren zu prüfen ist, das durch eine rechtlich selbständige Entscheidung mit Außenwirkung abgeschlossen wird. Dem ist beizupflichten. Zutreffend weist Schwarzer (BayBO, 2. Aufl. 1992, Art. 74 Anm. 2.1) im Anschluß an den Beschluß des 2. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 12.07.1983 (a.a.O.) darauf hin, daß die Bauaufsichtsbehörde auch von ihrer Fachkompetenz her bei einer solchen Prüfung überfordert wäre und zudem die Gefahr bestünde, daß dieselbe Frage im baurechtlichen Verfahren anders beurteilt würde als in dem anderen Gestattungsverfahren.
Die landläufige Meinung, daß mit der Erteilung der Baugenehmigung mit dem Bauen begonnen werden dürfe, geht wohl auf Zeiten zurück, in denen die mit dem Verhältnis der Baugenehmigung zu anderen öffentlich-rechtlichen Gestattungen zusammenhängenden Fragen keine große praktische Bedeutung hatten. Etwaigen Unklarheiten über die Bedeutung der "Baufreigabe" könnte entgegengewirkt werden, indem die Bauaufsichtsbehörden den Baugenehmigungsbescheiden einen Hinweis darauf beifügen, daß die Genehmigung keine uneingeschränkte "Baufreigabe" enthält und mit dem Bauen erst begonnen werden darf, wenn alle neben der Baugenehmigung etwa noch erforderlichen öffentlich-rechtlichen Gestattungen wirksam erteilt worden sind.
Nach alledem ist Art. 74 Abs. 1 BayBO so auszulegen, daß er sich nach seinem Regelungsgehalt nicht von § 59 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 der Baden-Württembergischen Bauordnung unterscheidet ("Die Baugenehmigung ist zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine von der Baurechtsbehörde zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen."). Aus dieser Sicht ist es zutreffend, wenn der 1. Senat im Vorlagebeschluß die im Baden-Württembergischen Landesrecht enthaltene Einschränkung als lediglich klarstellend ansieht; der baden-württembergische Landesgesetzgeber wollte offenbar nur etwas verdeutlichen, was sich aus dem Wesen der Baugenehmigung und ihrem Verhältnis zu anderen öffentlich-rechtlichen Gestattungen bei einer systematischen und teleologischen Auslegung ohnedies ergibt. In bezug auf § 59 Abs. 1 Satz 1 der Baden-Württembergischen Bauordnung vertritt der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 19.07.1990 (NVwZ-RR 1991, 284) für die hier inmitten stehende Frage des Verhältnisses der Baugenehmigung zur sanierungsrechtlichen Genehmigung die vom 1. Senat für richtig erachtete und vom Großen Senat bestätigte Auffassung (vgl. allerdings auch VGH Baden-Württemberg vom 02.04.1992 NVwZ 1993, 7).
Eine andere Beurteilung ist geboten, wenn der Gesetzgeber das Nebeneinander öffentlich-rechtlicher Gestattungen besonders geregelt hat. Die Frage, ob die Baugenehmigung den Schlußpunkt bilden muß, stellt sich nicht, wenn die Baugenehmigungspflicht im Hinblick auf eine in anderen Vorschriften normierte Gestattungspflicht zurücktritt (vgl. Art. 87 BayBO) oder wenn die an sich erforderliche Baugenehmigung von einer anderen für das Vorhaben erforderlichen Gestattung eingeschlossen wird (vgl. etwa § 13 BImSchG) oder wenn die Baugenehmigung ihrerseits eine nach anderen Vorschriften erforderliche Gestattung einschließt (vgl. etwa Art. 6 Abs. 3 Satz 1 DSchG). In diesen Fällen hat jeweils nur eine Behörde zu entscheiden (bei den beiden zuerst genannten Beispielen die "andere" Behörde und bei dem zuletzt genannten Beispiel die Baugenehmigungsbehörde).
Eine andere Beurteilung gilt außerdem in dem Fall, daß kraft gesetzlicher Vorschrift eine andere Gestattung vorliegen muß, um eine von der Baugenehmigungsbehörde zu prüfende Genehmigungsvoraussetzung bejahen zu können. So verhält es sich etwa mit einer wasserrechtlichen Gestattung, die für die Benutzung einer einem baugenehmigungspflichtigen Vorhaben dienenden Abwasserbeseitigungsanlage erforderlich ist. Solange diese Gestattung nicht vorliegt, kann die Baugenehmigungsbehörde die von ihr zu prüfende Frage nicht bejahen, ob die Erschließung des Vorhabens, dem die Abwasserbeseitigungsanlage dienen soll, gesichert ist.
Immerhin belegen diese Fälle, daß Baugenehmigung und andere Gestattungen grundsätzlich gleichrangig sind und unabhängig voneinander erteilt werden können, und daß der Gesetzgeber eigens Regelungen trifft, wenn von diesem Grundsatz Ausnahmen gelten sollen.
Die hier vertretene Auffassung, die Baugenehmigungsbehörde habe - ebenso wie die anderen Gestattungsbehörden - nur eine Prüfungskompetenz für die öffentlich-rechtlichen Vorschriften, für die sie auch die Sachentscheidungskompetenz hat, hindert die Baugenehmigungsbehörde nicht, einen Bauantrag wegen fehlenden "Sachbescheidungsinteresses" abzulehnen, wenn feststeht, daß eine andere für das Vorhaben erforderliche Gestattung nicht erteilt werden kann und von vornherein ausgeschlossen ist, daß der Bauherr von der Baugenehmigung Gebrauch machen kann (zum Begriff des "Sachbescheidungsinteresses" vgl. BVerwG vom 10.10.1989 BayVBl. 1990, 602; vgl. auch VGH n. F. 30, 115/117).