Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 08.02.1977 - V C 071.75 = BVerwG 52, 47= AgrarR 1977 S. 208= RdL 1977 S. 192

Aktenzeichen V C 071.75 Entscheidung Urteil Datum 08.02.1977
Gericht Bundesverwaltungsgericht Veröffentlichungen BVerwG 52, 47 = AgrarR 1977 S. 208 = RdL 1977 S. 192  Lieferung N/A

Leitsätze[Quelltext bearbeiten]

1. Eine Mitwirkung am vorausgegangenen Verfahren, die nach § 54 Abs. 2 VwGO von der Ausübung des Richteramts ausschließt, kann auch darin liegen, daß der Richter an Maßnahmen der Aufsichtsbehörde mitgewirkt hat, durch die Art und Inhalt des angefochtenen Verwaltungsakts beeinflußt worden sind.
2. Eine Mitwirkung im Sinne des § 54 Abs. 2 VwGO setzt nicht voraus, daß der im Verwaltungsverfahren tätig gewordene Richter für die behördliche Entscheidung zuständig gewesen ist und ihren Inhalt zu verantworten hat.

Aus den Gründen

Die Revision muß Erfolg haben.

Sie ist zulässig. Im Rahmen einer nach § 133 Nr. 2 VwGO zulassungsfreien Verfahrensrevision rügt die Klägerin schlüssig, das angefochtene Urteil leide an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil ein Richter daran mitgewirkt habe, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen gewesen sei.

Die Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht. Richter am Oberverwaltungsgericht A. hätte nicht an der gerichtlichen Entscheidung mitwirken dürfen. Er war aufgrund seiner Mitwirkung am vorausgegangenen Verwaltungsverfahren von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen (§ 138 Abs. 1 FlurbG i. V. mit §§ 54 Abs. 2 und 138 Nr. 2 VwGO).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der in § 54 Abs. 2 VwGO verwendete Begriff des "vorausgegangenen Verfahrens" weit auszulegen. Sofern eine Anfechtungsklage erhoben ist, gehört dazu das gesamte behördliche Verfahren einschließlich des Vorverfahrens, das den Erlaß des angefochtenen Verwaltungsakts zum Gegenstand hatte (Urteil vom 15.11.1961 - BVerwG VI A 1.60 - (Buchholz 310 § 54 VwGO Nr. 1); Urteil vom 29.1.1965 - BVerwG VII C 84.62 - (Buchholz 310 § 54 VwGO Nr. 3); Urteil vom 17.4.1975 - BVerwG V CB 4.74 - (Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 13)). Für diese weite Auslegung spricht vor allem der Sinn der in § 54 Abs. 2 VwGO getroffenen Regelung. Sie will ganz allgemein das Vertrauen auf die Unparteilichkeit der Verwaltungsgerichte schützen. Es soll deshalb kraft Gesetzes ausgeschlossen sein, daß ein Richter den Rechtsstreit entscheidet, dessen Mitwirkung dem Einwand ausgesetzt sein könnte, er habe sich bereits in der Sache festgelegt und könne seine richterliche Entscheidung nicht mehr mit der gebotenen Objektivität treffen, weil er vor der Übernahme des Richteramts als Verwaltungsbeamter an der im Verwaltungsverfahren getroffenen Entscheidung mitgewirkt hat. Der Eindruck einer mangelnden Objektivität besteht nicht nur dann, wenn der in das Richteramt hinübergewechselte frühere Beamte im Rahmen eines gesetzlich geregelten förmlichen Verwaltungsverfahrens tätig geworden ist, das die für den Erlaß des angefochtenen Verwaltungsakts zuständige Behörde durchzuführen hat. Der Begriff des vorausgegangenen Verfahrens muß umfassender gesehen werden. Auch die Tätigkeit der Aufsichtsbehörde, die den angefochtenen Verwaltungsakt zwar nicht selbst erlassen, aber Einfluß auf Art und Umfang der ergangenen Entscheidung ausgeübt hat, ist dem Verwaltungsverfahren zuzurechnen.

Für das hier in Rede stehende beschleunigte Zusammenlegungsverfahren steht dem nicht die Verfahrensregelung in § 92 FlurbG entgegen. Wenn nach dieser Vorschrift die Flurbereinigungsbehörde das Verfahren zu leiten und, wie sich aus dem Zusammenhang der § 92 und § 93 FlurbG ergibt, das Verfahren auch anzuordnen hat, so wird dadurch nur die funktionelle Zuständigkeit dieser Behörde festgelegt. Dadurch wird nicht ausgeschlossen, daß die obere Flurbereinigungsbehörde, deren Befugnisse nach § 2 Abs. 2 FlurbG i. V. mit § 1 Abs. 1 des rheinland-pfälzischen Landesgesetzes zur Ausführung des Flurbereinigungsgesetzes in seiner hier maßgebenden Fassung vom 26.3.1954 (GVBl. S. 49) dem Ministerium für Landwirtschaft, Weinbau und Forsten (jetzt Umweltschutz) zugestanden haben, im Rahmen ihrer allgemeinen Aufsichtsbefugnis ebenfalls tätig werden kann mit der Folge, daß diese Tätigkeit dem Verwaltungsverfahren zuzuordnen ist. Dabei braucht hier nicht näher auf die Frage eingegangen zu werden, ob das auch für Aufsichtsmaßnahmen gilt, die nur in einem entfernten zeitlichen oder sachlichen Zusammenhang mit dem erlassenen Verwaltungsakt stehen. Die Tätigkeit der Aufsichtsbehörde ist jedenfalls dann dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren im Sinne des § 54 Abs. 2 VwGO zuzurechnen, wenn dadurch der später ergangene und angefochtene Verwaltungsakt in seinem Inhalt so beeinflußt worden ist, wie hier geschehen. Offenbleiben kann dabei, ob die obere Flurbereinigungsbehörde bereits durch den an sie gerichteten Antrag des Kulturamts P. (Flurbereinigungsbehörde) vom 22.1.1973 für die Gemarkung Sch. nach § 4 FlurbG ein Flurbereinigungsverfahren anzuordnen, in das Verwaltungsverfahren einbezogen worden ist. Sie hat sich spätestens dadurch in das Verwaltungsverfahren konkret eingeschaltet, daß sie mit Erlaß vom 11.4.1973 die zuständige Flurbereinigungsbehörde angewiesen hat, in der Gemarkung Sch. das beschleunigte Zusammenlegungsverfahren einzuleiten und bei der Durchführung der Zusammenlegung im einzelnen genannte Grundstücke zu beachten. Auch das Schreiben der oberen Flurbereinigungsbehörde vom 27.6.1973 an den von der Zusammenlegung betroffenen Grundeigentümer M., das Richter A. unterzeichnet hat, steht im konkreten Zusammenhang mit der später von der Flurbereinigungsbehörde erlassenen Entscheidung. Es ist die Antwort auf eine Eingabe dieses Grundeigentümers vom 17.6.1973, mit der er das Ministerium gebeten hatte, für die Gemarkung Sch. kein Flurbereinigungsverfahren, auch nicht in der Form der beschleunigten Zusammenlegung, einzuleiten.

Durch die Unterzeichnung des erwähnten Schreibens hat Richter A. auch an dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt. Eine Mitwirkung i. S. des § 54 Abs. 2 VwGO setzt nicht voraus, daß der Richter innerhalb des Verwaltungsverfahrens eine rechtsverbindliche Entscheidung getroffen hat. Wie der Verfahrensbegriff ist auch der Begriff der Mitwirkung weit gefaßt, so daß grundsätzlich jede Art der Mitwirkung ausreicht (Bundesverwaltungsgericht, Urteile vom 15.11.1961 und vom 29.1.1965, Buchholz a.a.O.). Das entspricht auch dem Zweck der gesetzlichen Regelung, auf den bereits hingewiesen worden ist. Grundsätzlich ist jede Mitwirkung am behördlichen Verfahren geeignet, den Eindruck hervorzurufen, der Richter habe sich durch sein Tätigwerden im Verwaltungsverfahren bereits in der Sache festgelegt. Das ist vor allem dann nicht fraglich, wenn der in das Richteramt hinübergewechselte frühere Beamte einem Betroffenen gegenüber, wie es für das Schreiben von Richter A. vom 27.6.1973 zutrifft, die Richtigkeit der von der Behörde beabsichtigten Entscheidung rechtfertigt und die Hoffnung ausspricht, daß der Betroffene das Verfahren nicht durch die Einlegung von Rechtsmitteln behindern werde. Demgegenüber ist unerheblich, daß der Richter, wie von dem Beklagten geltend gemacht, für die Entscheidung im Verwaltungsverfahren nicht zuständig gewesen ist und sie auch nicht beeinflußt hat. Schon die Tatsache, daß Richter A. das Schreiben vom 27.6.1973 unterzeichnet hat, ist geeignet, den hier allein entscheidenden äußeren Eindruck hervorzurufen, der Richter habe sich die darin enthaltenen Ausführungen zu eigen gemacht und sich damit auch in der Sache festgelegt. Ob das für den Richter zu dem Zeitpunkt, zu dem er die gerichtliche Entscheidung trifft, noch tatsächlich gilt, ihm also seine früher als Beamter geäußerte Einstellung noch bewußt ist und er daran festhält, ist ohne Bedeutung. Bei der Mitwirkung am vorausgegangenen Verwaltungsverfahren, von der § 54 Abs. 2 VwGO die Ausschließung abhängig macht, handelt es sich um ein objektives Merkmal. Die subjektive Einstellung des Richters spielt keine Rolle.

Hat nach alledem Richter A. durch die Unterzeichnung des Schreibens vom 27.6.1973 an dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt, so beschränkt sich das nicht nur auf den Adressaten dieses Schreibens. Die Mitwirkung bezieht sich vielmehr, wie auch der Inhalt des Schreibens vom 27.6.1973 ergibt, auf den später erlassenen Verwaltungsakt insgesamt. Richter A. ist deshalb auch in dem hier zu entscheidenden Rechtsstreit nach § 54 Abs. 2 VwGO von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen. Das angefochtene Urteil beruht damit nach der unwiderleglichen Vermutung des § 138 Nr. 2 VwGO auf der Verletzung von Bundesrecht. Das muß hier zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung nach § 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO führen. Eine Entscheidungsmöglichkeit nach § 144 Abs. 4 VwGO besteht nicht.

Anmerkung

Die Entscheidung ist inhaltsgleich mit Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 8.2.1977 - V C 072.75.