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Vorlage:RzF

1. Zur Zuständigkeit und zur Form der Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung nach § 60 Abs. 4 VwGO.

Aus den Gründen

Das VG ist zutreffend davon ausgegangen, daß es für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag zuständig gewesen ist. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag ist in § 60 Abs.4 VwGO geregelt. Die Vorschrift gilt gem. § 70 Abs. 2 VwGO entsprechend für das Wiedereinsetzungsverfahren wegen Versäumung der Widerspruchsfrist. Sie gilt auch für das hier durchzuführende Wiedereinsetzungsverfahren wegen Versäumung der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO. Die auf § 60 Abs. 2 VwGO beschränkte Verweisungsvorschrift des § 58 Abs. 2 Satz 2 VwGO ist insofern unvollständig. Die Annahme, daß das VG im vorliegenden Fall für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag zuständig gewesen ist, steht allerdings mit dem Wortlaut des § 60 Abs. 4 VwGO nicht in Einklang, wonach über den Wiedereinsetzungsantrag das Gericht entscheidet, das über die versäumte Rechtshandlung zu befinden hat (die in § 70 Abs. 2 VwGO für das Widerspruchsverfahren vorgesehene entsprechende Anwendung dieser Bestimmung würde bedeuten, daß über den Wiedereinsetzungsantrag wegen Versäumung der Widerspruchsfrist entweder die Widerspruchsbehörde zu entscheiden hätte oder die Ausgangsbehörde, wenn sie dem Widerspruch abhelfen will; vgl. Eyermann - Fröhler, VwGO, 4. Aufl. 1965, § 70 Rdnr. 9).

Die Anwendung der Zuständigkeitsregelung des § 60 Abs. 4 VwGO auf das gerichtliche Verfahren setzt aber voraus, daß das hiernach zuständige Gericht eine Entscheidung über die versäumte Rechtshandlung nach der Verfahrenslage noch treffen kann. Das ist nicht der Fall, wenn das zuständige Gericht seinen Rechtszug bereits abgeschlossen hat und der Rechtsstreit durch Rechtsmitteleinlegung in der höheren Instanz anhängig ist. Diese Situation tritt ein, wenn der Wiedereinsetzungsantrag erst mit oder nach Einlegung des Rechtsmittels gestellt wird. Es läge nicht im Sinn des Gesetzes, hier an einer isolierten Zuständigkeit des Vorgerichts für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag festzuhalten. Die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag hängt mit der Entscheidung über die versäumte Rechtshandlung eng zusammen, da der Wiedereinsetzungsantrag auf Wiederherstellung einer Zulässigkeitsvoraussetzung der versäumten Rechtshandlung gerichtet ist. Es entspricht daher dem Gebot einer zweckmäßigen Prozeßführung, wenn beide Entscheidungen von dem selben Gericht getroffen werden (Grundsatz der Konnexität). Ist aber der Rechtsstreit in der Hauptsache bereits beim Rechtsmittelgericht anhängig, wird diesem Zweck der durch § 60 Abs. 4 VwGO getroffenen Regelung nur Genüge getan, wenn auch die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag auf das Rechtsmittelgericht übergeht (vgl. VGH München, Urteil vom 11.4.1949, VerwRspr. Bd. 2, 117; OVG Münster, Beschluß vom 17.11.1953, VerwRspr. Bd. 8, 781; Eyermann - Fröhler, aaO. § 60 Rdnr. 25; a.A. Stein-Jonas, ZPO, 17. Aufl., § 237 Erl. I).

Diese Rechtsgedanken treffen auch dann zu, wenn es sich um die entsprechende Anwendung des § 60 Abs. 4 VwGO i.V. m. § 70 Abs. 2 VwGO, also um das Verhältnis zwischen Widerspruchsbehörde und VG handelt. Hat die Widerspruchsbehörde den Widerspruch wegen Versäumung der Widerspruchsfrist zurückgewiesen und hat der Antragsteller den Antrag auf Wiedereinsetzung erst im Klageverfahren gestellt, so ist das VG für die Entscheidung über diesen Antrag zuständig (Eyermann - Fröhler , aaO. § 70 Rdnr. 10). Der gegenteiligen Auffassung des OVG Lüneburg (Beschluß v. 10.7.1962 in DVBl. 63, 335; ihm folgend Redeker - v. Oertzen, VwGO, 2. Aufl. 1965, § 70 Anm. 5; Schunck - De Clerck, VwGO, 2. Aufl. 1967, § 70 Erl. 7 a, sowie v. Buri, "Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Widerspruchsverfahren" in DÖV 63, 498) kann nicht gefolgt werden. Der zur Begründung durch das OVG Lüneburg eingenommene Standpunkt, der Grundsatz der Konnexität gelte nicht im Verhältnis zwischen Gericht und Behörde, leuchtet nicht ein. Er rechtfertigt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung, den Buri aaO. hervorhebt. Zwar werden die zur Regelung des Vorverfahrens bestehenden gesetzlichen Vorschriften nicht dem Prozeßrecht, sondern dem materiellen Verwaltungsrecht zugeordnet (vgl. Redeker - v. Oertzen, aaO. § 70 Anm. 5). Doch handelt es sich bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Widerspruchsfrist, wenn man sie unter dem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt der Gewaltenteilung betrachtet, nicht um eine Maßnahme, die ihrem Wesen nach der ausführenden Gewalt vorbehalten bleiben muß.

Das VG hat über den Wiedereinsetzungsantrag in der richtigen Form, nämlich durch Beschluß, entschieden. Der VGH Mannheim ist in ständiger Rechtsprechung bisher davon ausgegangen, daß über den Wiedereinsetzungsantrag wegen Versäumung der Klagefrist durch Beschluß entschieden werden kann, sofern das Verfahren auf die Verhandlung und Entscheidung über diesen Antrag beschränkt wird. Der VGH ist hierbei insbesondere der Entscheidung des BVerwG mit Beschluß vom 29.11.1963 (BVerwGE 17, 207 = NJW 64, 564) gefolgt (vgl. Beschluß vom 25.2.1965 - II 77/65 - und vom 19.9.1968 - V 67/68). Demgegenüber haben neuerdings das OVG Hamburg mit Beschluß vom 9.9.1967 (MDR 68, 873) und das OVG Münster mit Beschluß vom 24.2.1969 (NJW 69, 1223) im Anschluß an ihren bereits früher eingenommenen Standpunkt die Ansicht vertreten, daß über den Wiedereinsetzungsantrag wegen Versäumung der Klagefrist nur durch Urteil oder Vorbescheid entschieden werden kann (zum gegenwärtigen Stand der Meinungen s. dort). Der beschließende Senat hält jedoch an der bisherigen Auffassung des VGH Mannheim fest.

Gem. § 60 Abs. 4 VwGO entscheidet über den Wiedereinsetzungsantrag das Gericht, das über die versäumte Rechtshandlung zu befinden hat. Ausdrücklich enthält diese Vorschrift nur eine Regelung der Zuständigkeit. Jedoch läßt der Wortlaut die Deutung zu, daß die Vorschrift auch eine Regelung über die Form enthalten soll, in der über den Wiedereinsetzungsantrag zu entscheiden ist. Das Wort "entscheiden" ist in seiner Aussage vieldeutig, indem der Begriff der Entscheidung als Oberbegriff die gerichtlichen Akte des Urteils, des Vorbescheids und des Beschlusses einschließt (vgl. die Überschrift des 10. Abschnittes der VwGO; Urteile und andere Entscheidungen). Der Wortlaut kann demnach bedeuten, daß über den Wiedereinsetzungsantrag wahlweise durch jede der in der VwGO vorgesehenen gerichtlichen Entscheidungen befunden werden kann.

Auch die Systematik der in der VwGO über die Form gerichtlicher Entscheidungen enthaltenen Vorschriften steht dieser Auslegungsmöglichkeit nicht entgegen. Gem. § 107 VwGO ist über die Klage grundsätzlich durch Urteil zu entscheiden. Entgegen der Auffassung des OVG Hamburg folgt hieraus aber nicht, daß über den Wiedereinsetzungsantrag wegen Versäumung der Klagefrist zwingend durch Urteil zu befinden ist. Denn Gegenstand des Wiedereinsetzungsantrags ist nicht die Zulässigkeit der Klage, sondern das Gegebensein von Wiedereinsetzungsgründen; die Zulässigkeit der Klage ist erst die Folge der Wiedereinsetzung. Der Wiedereinsetzungsantrag ist verfahrensrechtlich mit den Anträgen zu vergleichen, über die in einem mehr oder weniger verselbständigten, durch besondere Verfahrensvorschriften geregelten Verfahren zu befinden ist; für Verfahren dieser Art ist regelmäßig der Beschluß als die richtige Entscheidungsform vorgesehen (vgl. §§ 54 Abs. 1, 80 Abs. 6, 99 Abs. 2, 123, 166 Abs. 2 VwGO). Andererseits unterscheiden sich die Entscheidungen über diese Anträge dahin, daß sie der Entscheidung über die Klage nicht vorgreifen, während von der Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag mittelbar die Zulässigkeit der Klage abhängt. Systematisch können daher sowohl das Urteil als auch der Beschluß die zutreffende Entscheidungsform über den Wiedereinsetzungsantrag sein.

Da sonach die hier maßgebliche Auslegungsfrage nach Wortlaut und Sinnzusammenhang nicht eindeutig zu klären ist, kommt der Entstehungsgeschichte des § 60 Abs. 4 VwGO entscheidende Bedeutung zu. Die Regelungen, welche § 60 Abs. 4 VwGO abgelöst hatte, waren unterschiedlich formuliert: Über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand "... beschließt ... das Gericht ...", § 33 Abs. 3 VGG; "... entscheidet ... das Gericht ...", § 36 Abs. 2 MRVO 1965; "... beschließt ... das VG ...", § 36 Abs. 3 Rhl.-Pf. VGG; "... wird ... durch Beschluß entschieden", § 22 Abs. 3 BVerwGG. Obwohl diese Formulierungen zu unterschiedlichen Auslegungen hätten Anlaß geben können, bestand zu all diesen Vorschriften einhellig die Auffassung, daß über den Wiedereinsetzungsantrag sowohl durch Beschluß als auch durch Urteil entschieden werden kann (vgl. BVerwGE 1, 84 = NJW 54, 1261). Das galt insbesondere auch für § 36 Abs. 2 MRVO 165 (vgl. OVG Hamburg, Urteil vom 23.12.1949 in MDR 50, 440), dessen Formulierung § 60 Abs. 4 VwGO insoweit übernommen hatte. Die Beseitigung der Entscheidungsmöglichkeit durch Beschluß hätte eine Änderung der Rechtslage bedeutet. Hätte diese Rechtsänderung dem Willen des Gesetzgebers der VwGO entsprochen, hätte er dies in irgendeiner Form zum Ausdruck bringen müssen. In einfacher Weise hätte dies durch Übernahme der Vorschrift des § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO geschehen können. Der Umstand, daß dies nicht geschehen ist, rechtfertigt den Schluß, daß der Gesetzgeber die bestehende Regelung beibehalten wollte (so insbesondere BVerwGE 17, 207 = NJW 64, 564). Dieses Ergebnis wird durch den in den Gesetzesmaterialien ausgesprochenen Grundgedanken bestätigt, daß die Regelung des § 60 VwGO im wesentlichen der bewährten Regelung der bisherigen Verwaltungsgerichtsgesetze folge (BT-Drucks. 1. Wahlp. Nr. 4278, Anl. 1, S. 39 zu § 63). Dagegen spricht auch nicht der vom OVG Münster hervorgehobene Umstand, daß der Bundesrat während des Gesetzgebungsverfahrens vorgeschlagen hatte, dem damaligen § 62 VwGO einen Abs. 5 anzufügen, demzufolge der "Beschluß", der die Einsetzung bewillige, unanfechtbar sein solle und daß in der endgültigen Fassung des § 60 Abs. 5 VwGO unter Weglassung des Hinweises auf die Beschlußform lediglich die Formulierung gewählt wurde: "Die Wiedereinsetzung ist unanfechtbar" (BT-Drucks. 2. Wahlp. Nr. 462, S. 60 und 3. Wahlp. Nr. 55, S. 10). Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Weglassung auf einem Redaktionsversehen beruht (so Seubert in BayVBl. 63, 208); jedenfalls kann sie auf der Erwägung beruhen, daß die Festlegung auf die Beschlußform mißverständlich den Ausschluß der Urteilsform bedeuten könnte.

Nach alledem ist für eine entsprechende Anwendung des § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO über die Verweisungsvorschrift des § 173 VwGO kein Raum. Der Entstehungsgeschichte des § 60 Abs. 4 VwGO, die insoweit eine lückenlose Auslegung der über das Wiedereinsetzungsverfahren getroffenen Regelung ermöglicht, kommt stärkeres Gewicht zu, als der nur subsidiären Geltung der Vorschriften der ZPO. Denn diese kommen gem. § 173 VwGO nur zum Zuge, soweit dieses Gesetz keine Bestimmung über das Verfahren enthält.

Dieses Ergebnis rechtfertigt sich auch unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit und der Prozeßökonomie. Das Beschlußverfahren ermöglicht eine beschleunigte Vorabentscheidung über die Wiedereinsetzung und belastet den Kläger mit einem geringeren Kostenrisiko (vgl. Seubert, aaO.). Im Falle der Wiedereinsetzung ist dies augenfällig, da diese gem. § 60 Abs. 5 VwGO unanfechtbar ist. Aber auch im Falle der Ablehnung der Wiedereinsetzung kann entgegen der Auffassung der OVG Hamburg und Münster in der Mehrzahl der Fälle durch die Entscheidung im Beschlußverfahren das Ziel der Vereinfachung und Beschleunigung erreicht werden. Es ist davon auszugehen, daß nach den Erfahrungen der Gerichtspraxis die Ablehnung des Wiedereinsetzungsantrags durch Beschluß überwiegend zur Zurücknahme der Klage führt. Allerdings hat der Kläger die Möglichkeit, das Klageverfahren weiterzuführen. In diesem Falle sind das VG und das Berufungsgericht an den rechtskräftigen Beschluß über die Ablehnung der Wiedereinsetzung gebunden (für das Berufungsgericht vgl. § 512 ZPO i.V.m. § 173 VwGO). Demgegenüber verneint das BVerwG diese Bindung für die Revisionsinstanz (vgl. BVerwG, Urteil v. 6.11.1953 in BVerwGE 1, 29 und Beschluß v. 27.10.1961 in BVerwGE 13, 145). Der Kläger kann daher nach rechtskräftigem Abschluß des Beschlußverfahrens berechtigten Anlaß haben, das Klageverfahren mit dem Ziele der Nachprüfung der Wiedereinsetzungsfrage durch die Revisionsinstanz weiterzuführen. In diesem Falle hat das Beschlußverfahren zu einer zweckwidrigen Verzögerung des Verfahrens geführt. Jedoch können sich hieraus keine durchgreifenden Bedenken gegen das Beschlußverfahren schlechthin ergeben, da dieses in der Mehrzahl der Fälle seinen verfahrensgemäßen Sinn durchaus erwiesen hat.

Schließlich bestehen keine erheblichen Bedenken dagegen, daß die Befugnis des Gerichts, zur Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag zwischen dem Beschluß- und dem Urteilsverfahren eine Wahl zu treffen, dem VG mittelbar die Möglichkeit einräumt, über die Besetzung des Spruchkörpers zu bestimmen (vgl. § 4 Abs. 3 VwGO). Ein Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 GG) ist hierin nicht zu sehen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG kann eine bewegliche Zuständigkeitsregelung verfahrensrechtlich hingenommen werden, wenn sie so geartet ist, daß sachfremden Einflüssen vorgebeugt ist (vgl. BVerfGE 9, 223/227 = NJW 59, 871). Dieser Rechtsgedanke trifft im vorliegenden Fall zu, da die Gefahr sachfremder Einflüsse hier sehr gering zu erachten ist.

Die Erkenntnis, daß das VG über den Wiedereinsetzungsantrag wegen Versäumung der Klagefrist durch Beschluß entscheiden kann, gilt in gleicher Weise für den vorliegenden Fall, in dem es sich um die hier dem VG obliegende Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag wegen Versäumung der Widerspruchsfrist (bzw. der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO) handelt.
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