Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 04.11.1966 - IV C 65.65 = BVerwGE 25, 251= Buchholz BVerwG 424.01 § 143 FlurbG Nr. 2= RdL 1967 S. 102

Aktenzeichen IV C 65.65 Entscheidung Urteil Datum 04.11.1966
Gericht Bundesverwaltungsgericht Veröffentlichungen BVerwGE 25, 251 = Buchholz BVerwG 424.01 § 143 FlurbG Nr. 2 = RdL 1967 S. 102  Lieferung N/A

Leitsätze[Quelltext bearbeiten]

1. Der Vorsitzende des Flurbereinigungsgerichts kann zur Vorbereitung der Entscheidungen des Gerichts nur einem Mitglied des Gerichts als beauftragtem Richter die Aufgabe übertragen, Ermittlungen und Verhandlungen vorzunehmen.

Aus den Gründen

Darüber hinaus ist aber der Senat der Ansicht, daß eine Augenscheinseinnahme durch ein vom Vorsitzenden zu bestimmendes Gremium unzulässig ist.

Nach § 143 FlurbG obliegt dem Vorsitzenden des Flurbereinigungsgerichts die Vorbereitung der Entscheidungen des Spruchkörpers, der nach den Erfordernissen der Flurbereinigungsverfahren besonders zusammengesetzt ist. Zu den vorbereitenden Maßnahmen gehören "Ermittlungen und Verhandlungen", die in Flurbereinigungssachen zumeist an Ort und Stelle geführt werden dürften, weil sie regelmäßig mit einer Augenscheinseinnahme verbunden sein werden. Aus diesem Grunde und im Hinblick auf die Eigenart dieser Verfahren erscheint eine Entlastung des Vorsitzenden besonders dringlich. Daher sieht die Vorschrift des § 143 FlurbG vor, daß der Vorsitzende die ihm obliegenden Aufgaben "einem Mitglied des Gerichts als beauftragtem Richter" übertragen kann. Außerdem kann er von den in § 143 Satz 3 FlurbG vorgesehenen weiteren Möglichkeiten Gebrauch machen, die ihm eine weitgehende Gestaltungsfreiheit für seine vorbereitenden Maßnahmen an die Hand geben. Darüber hinaus reicht seine Befugnis nicht, denn weder aus der Fassung des Gesetzes noch aus der Besonderheit der Flurbereinigungsverfahren lassen sich überzeugende Gründe herleiten, die dafür sprechen könnten, daß der Vorsitzende berechtigt sei, eine bestimmte Zahl von Mitgliedern des Spruchkörpers mit Ermittlungen und Verhandlungen und mit einer Augenscheinseinnahme zu beauftragen, selbst wenn dies sachgerecht geschieht, etwa durch Bestimmung solcher Mitglieder, die sich für die Lösung bestimmter Aufgaben durch eine besondere Fachkunde auszeichnen. Der Vorsitzende kann also nur, wie aus der Fassung des § 143 Satz 2 FlurbG hervorgeht, "einem Mitglied des Gerichts als beauftragtem Richter" bestimmte Aufgaben übertragen. Er kann aber auch nach § 143 Satz 3 FlurbG verfahren und eine Flurbereinigungsbehörde, einen höheren Beamten einer Oberen Flurbereinigungsbehörde - mit Zustimmung von dessen Dienststelle - oder einen höheren staatlichen kulturbautechnischen Beamten mit "Erhebungen und Verhandlungen" betrauen und von diesem Personenkreis gutachtliche Äußerungen anfordern, die auch Vorschläge für Änderungen des Flurbereinigungsplanes enthalten können. Damit erschöpfen sich die dem Vorsitzenden durch die Vorschrift des § 143 FlurbG an die Hand gegebenen Möglichkeiten einer weitgehenden Gestaltungsfreiheit bei der Vorbereitung der Entscheidungen des Flurbereinigungsgerichts. Die genannte Vorschrift ist, wie auch sonst verfahrensrechtliche Vorschriften, eng auszulegen. Die Formstrenge des Verfahrensrechts ist Ausfluß der Rechtsstaatgarantie. Diese Formstrenge beherrscht auch das Beweisverfahren, und in der Regel ist die Einnahme des Augenscheins Beweisaufnahme (s. Stein-Jonas, 1953, Vorbem. I 2 vor § 371 ZPO). Sie erfolgt, da das Beweisergebnis den sämtlichen erkennenden Richtern durch eigene Wahrnehmung unmittelbar vermittelt werden soll, grundsätzlich vor dem Prozeßgericht (§ 355 ZPO). Erscheint es angebracht, die Augenscheinseinnahme nicht durch das Kollegium stattfinden zu lassen - sei es aus Gründen der Prozeßbeschleunigung, der Zeit-, Arbeitskraft- und Kostenersparnis - so sehen die Verfahrensordnungen vor, daß damit ein Mitglied des Gerichts beauftragt werden kann. - Nichts anderes gilt für das gerichtliche Verfahren in Flurbereinigungssachen. Denn nach § 143 Satz 2 FlurbG kann der Vorsitzende die Aufgabe, Ermittlungen und Verhandlungen zur Vorbereitung der Entscheidung zu führen, "einem Mitglied des Gerichts als beauftragtem Richter" übertragen, eine Fassung der Gesetzesvorschrift, die derjenigen der Zivilprozeßordnung (§§ 361, 355 ZPO) und des § 96 Abs. 2 VwGO entspricht (Beweiserhebung in geeigneten Fällen "durch eines seiner Mitglieder als beauftragten Richter"). Auch die Besonderheit des Flurbereinigungsverfahrens rechtfertigt nicht die Annahme, es gebe für den Vorsitzenden die Möglichkeit, ein nach fachlichen Gesichtspunkten zusammengesetztes Gremium von Senatsmitgliedern mit der bezeichneten Aufgabe zu betrauen. Vielmehr gilt auch hier der Grundsatz, entweder durch den gesamten Spruchkörper oder durch den beauftragten Richter die erforderlichen Beweise zu erheben. - In diesem Zusammenhang sei bemerkt, daß "beauftragter Richter" nur ein berufsrichterliches Mitglied des Spruchkörpers sein kann (vgl. OVG Lüneburg, Beschluß vom 29. Juli 1966 in RdL 1966, S. 267). Der erkennende Senat kann sich daher nicht der Ansicht des früher in Flurbereinigungssachen zuständig gewesenen I. Senats des Bundesverwaltungsgerichts im Beschluß vom 20. Juli 1963 - BVerwG I B 88.63 - (RdL 1963, 278) anschließen, daß eine Ortsbesichtigung durch den Vorsitzenden des Flurbereinigungsgerichts gemeinsam mit einem beauftragten Richter nicht zu beanstanden sei. Ist eine Beweisaufnahme nur durch ein Mitglied des Gerichts nicht zweckmäßig, weil darunter die gründliche Unterrichtung des Gesamtsenats leiden würde, so zwingt der zur Entscheidung stehende Streitstoff zur Beweiserhebung - Augenscheinseinnahme - durch den gesamten Senat. Der Fall wird dann regelmäßig so liegen, daß über ihn nicht entschieden werden kann, ohne daß sämtliche Mitglieder des Gerichts einen persönlichen Eindruck von den tatsächlichen Verhältnissen gewonnen haben.

Nun wird dem entgegengehalten, daß es auch Fälle geben kann, in denen der Vorsitzende oder der beauftragte Richter die Zuziehung eines Fachbeisitzers - vielleicht mit Recht - für erforderlich hält, weil nur durch dessen Zuziehung eine sachgerechte Aufklärung möglich erscheint, andererseits aber die Beweiserhebung nicht von dem Gesamtsenat durchgeführt zu werden brauchte. Demgegenüber ist auf die Formstrenge der Verfahrensordnungen hinzuweisen, die nur die Alternative kennen, entweder die Beweisaufnahme vom Prozeßgericht oder vom beauftragten Richter vornehmen zu lassen. Der Grund für dieses "entweder - oder" ist darin zu suchen, daß das "funktionelle Verhältnis" zwischen beweiserhebendem Organ und dem vollen Spruchkörper gewahrt bleiben soll (so Brüggemann JZ 1952, S. 173). Hat der beauftragte Richter Tatsachen in Augenschein genommen (meist wird es sich darum handeln), so ist der Spruchkörper auf die Vermittlung seiner persönlichen Wahrnehmung allein angewiesen. Die übrigen Mitglieder des Gerichts stehen dem unmittelbaren Eindruck gleich fern. Sie befinden sich bei der Beurteilung des Streitstoffes untereinander und im Verhältnis zum beauftragten Richter in gleicher Ausgangslage. Insoweit bleibt also das Gleichgewicht innerhalb des Spruchkörpers erhalten. Die Verfahrensordnungen nehmen als unschädlich in Kauf, daß die Stimme des beauftragten Richters infolge seiner persönlichen Kenntnis von Tatsachen innerhalb des Spruchkörpers von Gewicht sein wird. Allein das führt noch nicht zur Störung des Gleichgewichts innerhalb des erkennenden Gerichts. Wenn sich aber darüber hinaus weitere Richter eine persönliche Anschauung von Tatsachen verschaffen, so ist eine Gewichtsverlagerung innerhalb des Spruchkörpers zu besorgen, die gerade bei Gerichten, in denen ehrenamtliche Richter die Entscheidung mittragen und mitverantworten, eine objektive Beurteilung des Streitstoffs als zweifelhaft erscheinen lassen können. Jedenfalls kann von einem gleichen Beurteilungsvermögen der Mitglieder eines Kollegiums dann nicht mehr die Rede sein, wenn von den strengen Regeln der Verfahrensordnungen hinsichtlich der Beweisaufnahme abgewichen würde.

Den Besonderheiten der Flurbereinigungssachen Rechnung zu tragen, den Vorsitzenden zu entlasten, die Verfahren zu beschleunigen und sie von Schwerfälligkeiten zu befreien, kommt die Vorschrift des § 143 Satz 3 FlurbG entgegen. Der Vorsitzende kann einen Sonderbeauftragten einsetzen, dieser kann ein Beamter der Flurbereinigungsverwaltung oder auch eine mit der Streitsache vorher nicht befaßte Flurbereinigungsbehörde sein. Das ist eine Ermittlungsform, die selbst bei schwierigen Sachverhalten eine schnelle Klärung in tatsächlicher Hinsicht im Flurbereinigungsgebiet ermöglicht, ohne daß eine "faktische Majorisierung" eines Teils der Mitglieder des Flurbereinigungsgerichts zu besorgen ist. Die Tatsachenfeststellungen, Planänderungsvorschläge einer solchen sachverständigen Person, die nicht Mitglied des Spruchkörpers ist, läßt eine Urteilsbildung bei den Gerichtsmitgliedern zu, die sämtlichen Mitgliedern die gleiche Ausgangslage für ihre Erkenntnis verschafft. Eine Ausweitung der dem Vorsitzenden zustehenden Befugnisse bei Vorbereitung der Entscheidung des Flurbereinigungsgerichts kann auch nicht mit einer Kostenersparnis, auf die in den Gründen des angefochtenen Urteils verwiesen wird, gerechtfertigt werden.

Anmerkung

Vgl. auch Bundesverwaltungsgericht, Beschluß vom 20.7.1963 - I B 88.63 = RdL 1963 S. 278, sowie Helbing, zur Auslegung des § 143 FlurbG, RdL 1969 S. 253