Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.02.1965 - IV ZR 231/63 = BGHZ 43, 148

Aktenzeichen IV ZR 231/63 Entscheidung Beschluss Datum 12.02.1965
Gericht Bundesgerichtshof Veröffentlichungen BGHZ 43, 148  Lieferung N/A

Leitsätze[Quelltext bearbeiten]

1. Der Prozeßbevollmächtigte kann die Berechnung der üblichen Fristen in Rechtsangelegenheiten, die in seiner Praxis häufig vorkommen, seinem gut ausgebildeten und sorgfältig überwachten Büropersonal überlassen, wenn die Berechnung der Fristen keine rechtlichen Schwierigkeiten bereitet.

Aus den Gründen

Der Kläger hat gegen das ihm am 9. August 1962 zugestellte Urteil vom 26. Juli 1962 form- und fristgerecht sofortige Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil eingelegt. Durch den dem Kläger am 13. Juli 1963 zugestellten Beschluß vom 21. Juni 1963 hat der erkennende Senat die Revision zugelassen. Der Kläger hat am 31. August 1963 Revision eingelegt und gebeten, ihm die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist zu erteilen. Zur Begründung dieses Antrags hat er ausgeführt, die Bürovorsteherin seines Prozeßbevollmächtigten, die 45 Jahre alt und seit 1959 in dessen Diensten sei, habe vier Jahre lang die Gerichtsferien richtig berücksichtigt. In diesem Jahr sei ihr der Irrtum unterlaufen, daß auch Notfristen durch die Gerichtsferien gehemmt würden. Der Irrtum sei erstmals am 13. Juli bei der Behandlung dieses Falles aufgetreten. Bis dahin seien die in die diesjährigen Gerichtsferien fallenden Notfristen von ihr richtig berechnet worden. Davon habe sich ein Prozeßbevollmächtigter selbst überzeugen können, da ihm vor Antritt seines Urlaubs verschiedene Sachen, in denen die Fristen richtig berechnet waren, vorgelegt worden seien. Sein Prozeßbevollmächtigter habe daher nicht annehmen können, daß die Angestellte plötzlich in eine irrtümliche Fristberechnung verfallen werde. Eine Erklärung für das Versagen der Angestellten sei vielleicht darin zu finden, daß sie nach einem im August 1963 erhobenen klinischen Befund ein Leberleiden habe, deswegen sie auf zunächst nicht absehbare Zeit jetzt ihre Berufstätigkeit habe unterbrechen müssen.

Dem Kläger ist die nachgesuchte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 209 BEG in Verbindung mit §§ 232, 233 ZPO zu erteilen. Denn die Versäumung der Frist beruht auf einem für ihn unabwendbaren Ereignis. Sie hat ihren Grund allein darin, daß die Angestellte des Prozeßbevollmächtigten des Klägers die Frist irrtümlich falsch berechnet hat. Den Prozeßbevollmächtigten des Klägers selbst trifft kein Verschulden. Es ist ihm hier insbesondere nicht vorzuwerfen, daß er die Berechnung der Frist seiner Angestellten überlassen hat.

Der Prozeßbevollmächtigte einer Partei muß das nach Lage des Falles, insbesondere nach seinen persönlichen Verhältnissen vernünftigerweise zuzumutende äußerste Maß von Vorsicht und Sorgfalt walten lassen, um die Einhaltung der Frist zu ermöglichen. Um dem Interesse des Staates und der Allgemeinheit an einer geordneten Prozeßführung und der Verhinderung einer Prozeßverschleppung Rechnung zu tragen, hat der Gesetzgeber die Zulässigkeit einzelner wichtiger Prozeßhandlungen derart an bestimmte, der Parteiwillkür entzogene Fristen geknüpft, daß deren Nichteinhaltung ohne weiteres den endgültigen Verlust der Prozeßhandlung zur Folge hat. Angesichts der Bedeutung der Fristen und der weittragenden Folgen, die eine Versäumung der Frist hat, muß jeder Rechtsanwalt Fristsachen mit der größten Peinlichkeit und Genauigkeit behandeln. Er hat Anordnungen und Einrichtungen zu treffen, die deren leichte Übersehbarkeit und Überwachung ermöglichen und die geeignet sind, die Parteien, soweit das in menschlichen Kräften steht, vor den Gefahren einer Fristversäumung zu schützen.

Das Reichsgericht hat bereits in einem Beschluß vom 23. September 1919 (RGZ 96, 322) ausgesprochen, daß die Anwälte gezwungen sind, gewisse einfache Verrichtungen, die keine besondere Geistesarbeit oder juristische Schulung verlangen, ihrem Büro zu überlassen, damit sie im Stande sind, ihre eigentlichen Berufspflichten und die ihnen von der Rechtsordnung zugewiesenen bedeutsamsten und wichtigsten Aufgaben, die Beratung und Belehrung der Parteien, die Bearbeitung des Prozeßstoffes und die Vertretung der Parteien vor Gericht, sachgemäß und in vollem Umfang zu erfüllen. Unter die Geschäfte dieser Art, die der Anwalt einem ausgebildeten und gehörig überwachten Büropersonal überlassen darf, hat das Reichsgericht die Führung des Fristenkalenders und auch die Berechnung der Fristen selbst gerechnet.

Dem hat sich der erkennende Senat in seiner früheren Rechtsprechung zunächst nicht angeschlossen. Er ist davon ausgegangen, daß die Rechtsanwälte in ihrer Praxis die verschiedensten Fristen zu wahren haben. Die Rechtsmittel- und die Rechtsmittelbegründungs-Fristen sind in den verschiedenen Verfahren unterschiedlich lang. So beträgt z. B. die Berufungsfrist nach § 516 ZPO in den Verfahren vor den ordentlichen Gerichten, nach § 124 Abs. 2 VGO in den Verfahren vor den Verwaltungsgerichten und nach § 151 Abs. 1 SGG in den Verfahren vor den Sozialgerichten einen Monat, während sie nach § 66 Abs. 1 AGG in den Verfahren vor den Arbeitsgerichten nur 2 Wochen beträgt. Die Revisionsfrist beträgt in diesen Verfahren einheitlich einen Monat (§ 552 ZPO, § 74 Abs. 1 AGG, § 139 Abs. 1 Satz 1 VGG, § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG und ebenso § 113 Abs. 1 des Entwurfs der Finanzgerichtsordnung). Zweifel, ob eine Frist in Lauf gesetzt worden ist, sind meist rechtlicher Art. Sie können zuverlässig nur durch den rechtskundigen Prozeßbevollmächtigten selbst, nicht aber durch sein Büropersonal ausgeräumt werden. Aus diesem Grunde hat der erkennende Senat früher ausgesprochen, daß ein Rechtsanwalt in jedem Falle das Ende der Rechtsmittel- und der Rechtsmittelbegründungs-Frist selbst feststellen müsse und daß er seinem Büropersonal nur überlassen dürfe, entsprechend dieser von ihm getroffenen Feststellungen die notwendigen Eintragungen in den Fristenkalender zu machen (LM ZPO § 232 Ca Nr. 5 betr. die Rechtsmittelfrist; ZPO § 233 Nr. 58 ebenfalls betr. die Rechtsmittelfrist und LM BEG 1953, § 98 Nr. 7 betr. die Rechtsmittel- und die Rechtsmittelbegründungs-Frist). In einem nicht veröffentlichten Beschluß vom 17. Mai 1963 - IV ZB 193/63 - hat der Senat bereits entschieden, daß der Prozeßbevollmächtigte die Feststellung der Rechtsmittelbegründungsfrist einem gut ausgebildeten und gehörig überwachten Büroangestellten überlassen dürfe. Ähnlich hat der II. Zivilsenat für den Fall entschieden, daß der Prozeßbevollmächtigte auf die Durchschrift der Berufungseinlegung verfügt hatte, "Berufungsbegründungsfristen notieren. (Achtung! Wechselsache!!)"

Der Senat hat den von ihm bisher vertretenen Rechtsstandpunkt erneut überprüft. Er hat eine Auskunft der Bundesrechtsanwaltskammer eingeholt und der Kläger hat ein im Zusammenhang mit dieser Auskunftserteilung erstattetes Memorandum des Deutschen Anwaltsvereins vorgelegt.

Die Bundesrechtsanwaltskammer hat auf Grund der von ihr angestellten Ermittlungen mitgeteilt, daß bei einer mittleren oder größeren Praxis es dem Anwalt nicht immer möglich sei, das Ende der Fristen in jedem Falle persönlich festzustellen, und daß es genügen müsse, daß die Feststellung der Fristen und deren Eintragung ohne persönliche Mitwirkung des Anwalts auf Grund einer allgemeinen Anweisung durch zuverlässiges Büropersonal erfolge. Sie vertritt die Ansicht, daß die Feststellung normaler Fristen einem gut geschulten Büropersonal, das sich als zuverlässig bewährt hat, überlassen werden könne. Dies gelte insbesondere für Rechtsmittelfristen bei gewöhnlichen Urteilen, Fristbeginn durch Zustellung von Anwalt zu Anwalt und in Verfahren mit Zustellung von Amts wegen, wenn solche Verfahren in der Praxis nicht nur vereinzelt vorkommen und wenn die damit verbundenen Besonderheiten dem Führer des Fristenkalenders genau vertraut seien. Dagegen sei die Feststellung der Rechtsmittelbegründungsfristen dem Büropersonal nicht allein zu überlassen, wenn Besonderheiten in Betracht kämen, insbesondere beim Lauf der Fristen während der Gerichtsferien.

Der Deutsche Anwaltsverein hat in seinem Memorandum mitgeteilt, daß auf die Umfrage der Bundesrechtsanwaltskammer 8 Anwaltskammern die Meinung geäußert hätten, daß in ihrem Bereich die Feststellung des Endes der Fristen im allgemeinen dem Bürovorsteher oder geschulten Büropersonal überlassen werde. 9 Kammervorstände hätten die Meinung geäußert, daß in ihren Bezirken unterschiedlich verfahren werde. Bei geschultem Personal und in größeren Kanzleien werde die Feststellung der Fristen dem Büropersonal überlassen, während diese Aufgabe in anderen Fällen dem Anwalt persönlich vorbehalten bleibe. 4 Kammervorstände hätten die Meinung vertreten, daß die Feststellung der Fristen regelmäßig von dem Anwalt selbst vorgenommen werden müsse. Sie hätten sich indessen nicht dahin geäußert, ob in ihren Bezirken auch entsprechend verfahren werde.

Es ist zu berücksichtigen, daß die Schwierigkeit der juristischen Arbeit ebenso wie bei den Gerichten auch in der Praxis des Rechtsanwalts erheblich zugenommen hat. Dem Anwalt ist es in aller Regel nicht möglich, diesen ständig zunehmenden Schwierigkeiten durch eine stärkere Spezialisierung abzuhelfen. Die Spezialisierung auf ein bestimmtes Teilgebiet des Rechts kommt in der deutschen Rechtsanwaltschaft, wie der Deutsche Anwaltsverein mitgeteilt hat, nur in wenigen Einzelfällen vor. Der deutsche Rechtsanwalt muß grundsätzlich alle an ihn herankommenden Sachen selbst bearbeiten. Dabei sieht er sich Schwierigkeiten gegenüber, die in früheren Jahrzehnten unbekannt waren. Der Deutsche Anwaltsverein hat auf Grund seiner Erfahrungen ausgeführt, daß früher ein erfahrener, in mittleren Jahren stehender Rechtsanwalt nach seiner Berufsausbildung in wenigstens 3/4 aller seiner Sachen in der Lage gewesen sei, sie ohne besonderes Studium von Rechtsprechung und Literatur zu bearbeiten. Heute dagegen lägen die Dinge umgekehrt. Er müsse in wenigstens 3/4 aller seiner Sachen Rechtsprechung und Literatur sorgfältig prüfen, bevor er sich zu einer Maßnahme entschließe. Dieser Mehrbelastung kann, wie der Deutsche Anwaltsverein zutreffend dargelegt hat, der Rechtsanwalt nur dadurch Herr werden, daß er einfachere Arbeiten seinem Büropersonal überläßt. Unter den heute gegebenen Verhältnissen kann daher von dem Rechtsanwalt nicht mehr verlangt werden, daß er in jedem Falle selbst den Beginn der Frist feststellt und ihre Dauer berechnet. Es muß unterschieden werden, ob es sich um die gewöhnlichen Fristen in den in seinem Büro herkömmlichen und geläufigen Rechtsangelegenheiten (Routinefristen) handelt, oder um Fristen in Sachen, die nach dem Zuschnitt der Praxis aus dem gewöhnlichen Rahmen fallen. Die Berechnung der einfachen und seinem Büro geläufigen Fristen kann der Anwalt, ohne schuldhaft zu handeln, gut ausgebildeten und sorgfältig überwachten Angestellten überlassen. Er muß nur durch geeignete allgemeine oder spezielle Anordnungen dafür Sorge tragen, daß ihm die Feststellung des Beginns und Ende der Frist in den Fällen vorbehalten bleibt, die in seiner Praxis ungewöhnlich sind oder bei denen Schwierigkeiten und Zweifelsfragen hinsichtlich des Beginns und der Dauer der Frist auftreten können. Er muß seine Sachen selbst darauf prüfen, ob er die Berechnung der Fristen dem Büropersonal überlassen kann oder ob er sich diese selbst vorbehalten muß. Soweit letzteres der Fall ist, muß er sein Büropersonal mit geeigneten Weisungen versehen, die sicherstellen, daß ihm die Sachen zur Berechnung der Fristen vorgelegt werden.

In dem hier zu entscheidenden Falle handelte es sich bei der versäumten Frist um eine solche, die in der Praxis des Prozeßbevollmächtigten des Klägers eine herkömmliche ist. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat eine umfangreiche Praxis in Entschädigungssachen. Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision sind in seiner Praxis geläufig. Ebenso ist es für seine Praxis nicht ungewöhnlich, daß nach der Zulassung der Revision durch den Bundesgerichtshof dieses Rechtsmittel eingelegt wird. In einem solchen Falle beträgt die Frist zur Einlegung der Revision nach § 220 Abs. 3 BEG einheitlich einen Monat. Sie beginnt mit der Zustellung des Beschlusses, durch den die Revision zugelassen wird. Sie ist eine Notfrist und wird durch die Gerichtsferien nicht gehemmt. Die Berechnung und Wahrung dieser Frist erfordert keine juristischen Fachkenntnisse. Der Prozeßbevollmächtigte konnte daher ihre Berechnung einem genügend ausgebildeten und sorgfältig überwachten Büropersonal überlassen. Daß die Angestellte, die die Frist irrtümlich berechnet hat, genügend ausgebildet war und von ihm sorgfältig überwacht worden ist, hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers glaubhaft gemacht. Dem Kläger war daher die nachgesuchte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist zu erteilen.